Eine Würdigung "White Christmas" - Der Hit zum Fest

Düsseldorf · Lieder können so mächtig sein wie Präsidenten, Konzernbosse und Philosophen, und "White Christmas" ist ein solches Lied. Es ist so stark, dass es unsere Kultur verändert hat, unsere Art zu denken und sogar zu fühlen. "White Christmas" ist so betrachtet der einflussreichste Song der Welt.

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In jedem Jahr hören wir das Stück, und selbst wer die Platte nie selbst aufgelegt hat, wird die Melodie summen können, wenn er den ersten Takten und Versen begegnet: "I'm dreaming of a white Christmas / Just like the ones I used to know". Es kommt im Fernsehen zum Einsatz, im Radio, in Cafés und Einkaufspassagen. Dass ein Lied Allgemeingut geworden ist, erkennt man am besten daran, dass man nicht mehr kontrollieren kann, wann man es hört.

Hase und Igel

Mit "White Christmas" geht es einem wie dem Hasen im Märchen mit dem Igel: Es ist immer schon da. Rund 50 Millionen Mal hat sich allein die Single mit der Einspielung von Bing Crosby aus den frühen 40er Jahren verkauft, nur "Candle In The Wind" von Elton John steht in der Rangliste der ewigen Hits vor "White Christmas". Mehr als hundert Künstler sangen das Lied seither, von Frank Sinatra bis Michael Bublé, und die Urheberrechte sind so wertvoll, dass die Erben des US-Komponisten Irving Berlin auf nicht absehbare Zeit in größtem Luxus leben können, ohne selbst arbeiten zu müssen.

Dieser Irving Berlin wurde in Sibirien als Israel Baline geboren, er war Jude, und seine Eltern emigrierten 1893 in die USA, als er noch ein kleiner Junge war. Die Familie zog ins Immigrantenghetto in Brooklyn, wo der Vater eine Anstellung als orthodoxer Kantor fand. Irving Berlin schaute mit Sehnsucht auf die Amerikaner, er wollte dazugehören, leben wie sie, und rasch fand er einen Weg, ihre Vorlieben kennenzulernen. Mit zwölf Jahren nahm ihn eine Plattenfirma unter Vertrag. Sein Job: sich an Straßenecken positionieren und Kompositionen testen. Man gab ihm neue Lieder, und er sang oder flötete sie, nochmal und nochmal, und an der Reaktion der Passanten erkannte er, ob der Titel das Zeug zum Hit hatte. Seine Beobachtungen schilderte er dann seinen Auftraggebern. Er war eine menschliche Drohne, sein eigenes Ausspähprogramm, ein lebender Logarithmus.

Die Gefühle der Masse

"Ein gutes Lied bringt die Gefühle der Masse auf den Punkt", sagte Irving Berlin später, da war er bereits weltberühmt. Er konnte keine Noten lesen und nicht Klavier spielen, aber er hatte sein Gespür. 450 Berlin-Kompositionen fanden den Weg in die Hitparade, darunter "There's No Business Like Showbusiness" und "Puttin' On The Ritz". Und als er am Morgen des 8. Januar 1940 früher als gewohnt in sein Büro stürmte, sagte er seiner Sekretärin, die seine musikalischen Eingebungen stets notieren musste: "Dieser Song ist nicht nur der beste, den ich je geschrieben habe. Es ist der beste, den überhaupt jemand geschrieben hat." Dann sang er ihr vor, und der Song hieß "White Christmas".

Vor diesem Tag waren Weihnachtssongs sakral oder heiter. "Stille Nacht" oder "Jingle Bells". Berlin führte die Melancholie in das Genre ein. Der Erzähler in diesem Lied erinnert sich an vergangene Zeiten, er sehnt sich in 54 Worten und über 32 Takte hinweg in eine verschneite Märchenlandschaft zurück, in das Land, das früher heißt. Er ist ein bisschen traurig und ein bisschen einsam, ohne indes allzu gram darüber zu sein. Happy to be sad. Der Dichter Carl Sandburg sagte über die Wirkung von "White Christmas": "Wenn wir es singen, können wir einander nicht mehr hassen."

Musikalisch ist "White Christmas" eingängig, aber auf ungewöhnliche Weise. Irving Berlin versah diese anmutige Komposition mit feinen Widerhaken, und sie sind dafür da, dass man sein Herz daran hängt. Jeder andere Komponist hätte die Worte "dreaming" und "christmas" betont, Berlin wählte "i'm" und "white". Mit den Wörtern "glisten" und "listen" nimmt das Lied Fahrt auf, und die gehaltene Note beim langgezogenen "bright" friert den Moment ein. Das Lied ist wehmütig, aber nicht bitter. Die Reime sind simpel im besten Sinne, sie haben keinen doppelten Boden, wirken ehrlich und frei von Ornament. Die Szenerie ist einfach und leicht verständlich, eine Leinwand mit ein paar Strichen. Es gibt nur Andeutungen: Ist das vielleicht sogar eine Liebesgeschichte? Und ganz automatisch zeichnet der Hörer diese Sinnskizze in Gedanken weiter, malt sein persönliches Bild der Weihnacht.

Idee kam Berlin in Beverly Hills

Die Idee zum Song kam Berlin bereits 1937 in Beverly Hills. Er war Ende 40 und konnte nicht wie jedes Jahr über Weihnachten zu seiner Familie in die verschneiten Catskill-Berge nördlich von New York fahren. Er musste in Hollywood bleiben, sie brauchten dort eine Filmmusik von ihm. Seine Familie schickte ihm einen Film von sich, "Frohe Weihnachten, Daddy!", riefen alle, und danach soll Berlin vor Rührung geweint haben. In derselben Nacht begann er "White Christmas". Das Lied hatte zunächst eine sarkastische Note, Berlin machte sich darin lustig über Weihnachten am Swimmingpool. Er ließ den Entwurf liegen, holte ihn erst drei Jahre später wieder hervor. Der Erfolg kam allmählich. 1942 gab Bing Crosby, damals Amerikas Lieblingssänger, den Titel in dem Film "Holiday Inn".

Die Produktion lief jedoch im Sommer an, und für das Lied interessierte sich zunächst niemand. Aber es war Krieg, und Radio-DJs spielten das Stück ab Oktober für die Soldaten der US-Army. Sie spielten es wieder und wieder, und durch die Macht der Wiederholung wurde es zur Nationalhymne der Soldaten in der Fremde. Irving Berlin, der Jude aus Sibirien, befriedigte tatsächlich die patriotischste aller amerikanischen Sehnsüchte: das Heimweh.

Zehn Wochen auf Platz ein

Die Single von Bing Crosby stand zehn Wochen lang auf Platz eins, kam in den 20 Jahren danach immer zu Weihnachten abermals in die Nähe der Spitzenposition, und dieser Erfolg begründete die Tradition des weihnachtlichen Popsongs. Wichtiger noch: Er brachte das Bild von der weißen Weihnacht in unsere Köpfe und Herzen, das vorher keine Bedeutung hatte, zudem die Melancholie und im Grunde auch die Verweltlichung des Festes. Unsere Weihnacht ist eine andere, seit es "White Christmas" gibt. Der jüdische Schriftsteller Philip Roth sagte deshalb mit viel Ironie, Irving Berlin sei ein Genie: "Er hat Religion in Kitsch verwandelt, und alle lieben ihn dafür."

Fünf Jahre nachdem das Lied veröffentlicht worden war, musste Bing Crosby es neu aufnehmen, da die Masterbänder so abgenutzt waren, dass man sie nicht mehr verwenden konnte. Man veränderte das Arrangement nicht, reicherte die neue Fassung aber mit weiteren Streichern an, und diese Version ist die, die wir heute zumeist hören. Dicke Soße, ziemlich fettig und unwiderstehlich: "May your days be merry and bright / And may all your Christmases be white."

Von Irving Berlin ist überliefert, dass er Weihnachten stets mit Tannenbaum feierte, Geschenken im Wollstrumpf und "White Christmas". "Geschichte macht Lieder, und Lieder machen Geschichte", lautet einer seiner späten Sätze. Irving Berlin starb 1989 im Alter von 101 Jahren. Er soll bis zuletzt sehr glücklich gewesen sein.

(hol)
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