Wie es euch gefällt

G8? G9? Die Diskussion um die Dauer der gymnasialen Ausbildung gleicht einem bildungspolitischen Stellungskrieg. Eine Schule in Goch lässt jeden Schüler selbst entscheiden, ob acht oder neun Jahre für ihn richtig sind.

 Mathematik-Unterricht bei Schulleiterin Doris Mann am Collegium Augustinianum Gaesdonck in Goch (Kreis Kleve).

Mathematik-Unterricht bei Schulleiterin Doris Mann am Collegium Augustinianum Gaesdonck in Goch (Kreis Kleve).

Foto: Markus van Offern

Imke van Wickeren weiß genau, was sie nach ihrem Abitur machen möchte: Medizin studieren. Die Noten sind gut, der Entschluss steht seit Jahren fest. Deshalb hat sich die 15-Jährige für das Abitur nach zwölf Jahren (G8) entschieden. "Ich möchte die Chance nutzen, möglichst früh mit dem Studium beginnen zu können", sagt sie. Hannah Steffen (15) lässt sich da lieber mehr Zeit. Sie will ins Ausland, für zwei Monate in die Schweiz. Derzeit ist eine Schweizer Austauschschülerin bei ihr zu Gast. Um versäumte Stunden besser aufholen zu können, gönnt sich Hannah daher ein Schuljahr mehr (G9). Zwei Mädchen, zwei favorisierte Schulsysteme - und doch gehen beide Schülerinnen auf dasselbe Gymnasium. Während in NRW die Debatten über G8 oder G9 auf Hochtouren laufen, bietet das Collegium Augustinianum Gaesdonck (CAG) in Goch einfach beide Möglichkeiten an.

Bei dem sogenannten Springermodell des CAG können die Schüler in der neunten Jahrgangsstufe selbst entscheiden, ob sie klassisch in die zehnte Klasse gehen oder diese überspringen und in die Einführungsphase (EF) wechseln möchten. Voraussetzung für den Sprung in die EF sind entsprechend gute Noten. Imke hatte mit ihrem 1,6-Durchschnitt keine Probleme. Allein auf blanke Zahlen komme es aber nicht an, betont Oberstufenkoordinator Thorsten Kattelans. "Wir sehen uns jeden Schüler individuell an und berücksichtigen etwa dessen Entwicklungspotenzial oder die Lernbereitschaft", erklärt er.

Für die Springer gibt es ein Förderkonzept zur Anpassung des Leistungsstands, das bereits in der neunten Jahrgangsstufe beginnt. Dabei werden jeden Donnerstagnachmittag die Fächer Deutsch, Englisch, Mathematik, Biologie und Chemie jeweils in Doppelstunden nach einem festen Zeitplan unterrichtet. Pro Woche stehen zwei Fächer, also vier Stunden mehr für die Springer an. In der EF wird die Förderung in den Hauptfächern Deutsch, Englisch und Mathematik durch vierstündigen Unterricht statt der vorgesehenen drei Stunden fortgesetzt.

Ähnliche Modelle werden in der Politik heiß diskutiert. Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) hat sich jüngst dafür ausgesprochen, beide Schulformen parallel an Gymnasien laufen zu lassen. Ihrem Vorschlag nach solle bei jedem Kind in der sechsten Klasse die Entscheidung fallen, wie viele Schuljahre bis zur Oberstufe angepeilt werden - drei oder vier.

Auch die SPD will Schülern die Wahlfreiheit lassen. Die Partei sieht in ihrem Modell vor, die Sekundarstufe eins wieder von fünf auf sechs Jahre zu verlängern und die Schüler dafür in der Oberstufe entscheiden zu lassen, ob sie ihr Abitur nach zwei oder drei Jahren machen wollen. FDP und CDU sehen vor, den Gymnasien freizustellen, ob sie das Abitur nach acht oder neun Jahren anbieten. Die Piraten, Linkspartei und AfD wollen generell zu G9 zurück. So unterschiedlich die Forderungen, so eindeutig die Botschaft: Vor der Landtagswahl wird über die Zukunft der Schulformen nicht mehr entschieden.

"Die Diskussionen lassen zumindest hoffen, dass unser Konzept bestehen bleibt", sagt CAG-Direktor Peter Broeders. "Seitdem wir es verfolgen, wurden wir nur darin bestärkt, dass das Springermodell die beste Lösung ist." Entstanden ist die Idee Ende 2010, als die Gymnasien in NRW im Rahmen des Schulversuchs G9(neu) wieder von acht auf neun Schuljahre umsteigen konnten. 13 der rund 630 Gymnasien nahmen das Angebot an. "Für uns war es keine Frage, an dem Schulversuch teilzunehmen, da wir mit der Einführung von G8 eher schlechte Erfahrungen gemacht hatten", erklärt der Direktor. Schüler hätten über zu hohe Belastung geklagt, die Teilnehmerzahlen bei Angeboten wie der Theater-AG, der Big Band oder den Sportgruppen brachen ein. Am deutlichsten zeigte sich der Rückgang bei den Auslandsaufenthalten: Gingen früher von 100 Schülern rund 30 ins Ausland, waren es zu G8-Zeiten von 80 nur einer. "Bei der Frage um G8 oder G9 geht es um mehr als darum, ein gutes Abitur zu erlangen. Es geht um eine breite Bildung, darum, den Schülern mehr Luft für Kunst, Musik und ihre Entwicklung zu lassen", betont Broeders.

Dennoch wollte das Gymnasium G8 nicht abschaffen. "Es gab auch immer wieder Schüler, die gut mit der verkürzten Schulzeit klarkamen, und die wollen wir ebenso gut begleiten", sagt Schulleiterin Doris Mann. In diesem Schuljahr war der Sprung in die EF zum ersten Mal möglich. Zehn Schüler nutzten die Möglichkeit.

Die Gymnasiasten freuen sich über die Flexibilität und, wie Julian van den Heuvel betont, über das Mitspracherecht. "Für mich haben meine Eltern in der vierten Klasse entschieden", sagt der 16-Jährige, der bis zur zehnten Klasse auf ein G8-Gymnasium ging. "Im Nachhinein hätte ich mir lieber eine längere Schulzeit gewünscht. Mir sind viele Entfaltungsmöglichkeiten versagt geblieben." Auch Imke, die zu den wenigen Springern gehört, hält beide Schulformen für notwendig. "Man sollte den Schülern die Wahlfreiheit lassen. Wäre ich für längere Zeit ins Ausland gegangen, hätte ich mich wohl auch anders entschieden."

Uwe Lämmel von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sieht in dem Modell des CAG "großes Potenzial". Die GEW befürwortet eine individuell gestaltbare Lernzeit von zwei bis vier Jahren in der Gymnasialen Oberstufe. Der Landesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann, ist allerdings skeptisch, dass sich das Springermodell in allen Gymnasien in NRW einführen ließe. "Individualisierten Unterricht gibt es nicht zum Nulltarif", sagt er. "Je mehr individualisiert wird, desto mehr Ressourcen werden benötigt." Zudem müsse es an allen Gymnasien genügend leistungsstarke Schüler geben, um die Förderkonzepte für die Springer zu etablieren.

(beaw)
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