Salzburg Wie Orpheus als Sternbild an den Himmel kam

Salzburg · John Eliot Gardiner dirigiert Claudio Monteverdis Oper "L'Orfeo" zur Eröffnung der Salzburger Festspiele.

Seine Arme holen weit und langsam zum Einsatz aus, als ob ein maximal entspannter Albatros zum Abflug startet. Irgendwo in der Luft und in der unendlichen Zeit scheint der Orchesterakkord auf den Dirigenten zu warten. Doch wenn er landet, hören wir kein Knacken der Materie, vielmehr schwebt der Akkord herein. Den Boden berührt er erst spät. Hier herrscht höchste Vorsicht, wie auch anders, wir befinden uns in der ersten Oper der Musikgeschichte, und die Angelegenheit ist ja auch überaus heikel: Orpheus, der berühmteste Sänger, hat seine geliebte Braut Eurydike durch einen Schlangenbiss verloren, jetzt tritt er ans Ufer der Unterwelt, um sie zurückzuholen.

Die Salzburger Festspiele erinnern in diesen Tagen prominent an den 450. Geburtstag von Claudio Monteverdi und an dessen drei Meisteropern, und dieses spektakuläre Unternehmen ist dem großen englischen Dirigenten John Eliot Gardiner und seinem Monteverdi Choir anvertraut, die ihr Leben lang immer wieder zum Namenspatron zurückgefunden haben. Er ist für sie Tower und Labyrinth, Basislager und fremder Planet. Mit Monteverdi wird man nie fertig, obwohl die wenigen Noten alle verbürgt sind. Jetzt erleben wir in der Salzburger Felsenreitschule, wie Gardiner und die Seinen an wundervollem Ort mit sparsamsten Mitteln großes Welttheater entzünden.

Auf der Bühne das Orchester mit exotischen Geräten: Zinken, Theorben, Blockflöten, Fiedeln, Leiern. Im Hintergrund sind die Arkadengänge der Felsenreitschule erleuchtet und tauchen alles ins Licht der Feierlichkeit. Aber wie gesagt, es ist ein Festakt, bei dem sich alle fortwährend vergewissern, dass dem Jubilar höchster Feinsinn gewährt wird. Das Ergebnis ist fulminant: Die Musik hat etwas Improvisatorisches, Florales; wir erleben tatsächlich, wie sich ihre Knospen zu Blüten öffnen. Schöner kann man das nicht musizieren. Und selbstverständlich ist der Raum das Bühnenbild, seine erhabene Weite erhöht die Würde.

Gleichwohl erleben wir keine edle Langeweile. Das Schicksal des Orpheus (intensiv: Krystian Adam) rührt uns zutiefst, wenn er auf der Bühne durch das Orchester streift, als ob ihm dort jemand Hilfe spenden könnte. Zunächst ist La Musica auf seiner Seite (Hana Blaziková), die so süß flötet, dass alles gut zu werden scheint. Aber plötzlich sind da nur schattenhafte Klänge, die sich gegen ihn verschwören. Und dann kommt Pluto, ein Mann (Gianluca Buratto) mit einer Stimme wie ein Brunnen, in den man besser nicht klettert, weil in seiner Finsternis der Tod wartet. In dieser unwirtlichen Lage überkommt den Orpheus nackte Angst, und er tut das, was ihn Eurydike endgültig verlieren lässt: Er blickt sich nach ihr um.

Oft muss man den Atem anhalten, weil die zweistündige Aufführung eine fast körperliche Intensität entwickelt. Dann aber kommt Apoll und entrückt den Orpheus als Sternbild an den Himmel, wo seine Leier an klaren Sommernächten noch heute allen Liebenden zuflüstert, sie mögen bei allen Herzensregungen die Musik nicht vergessen, die sie rettet, tröstet, erhebt und beseelt. So sah es auch das Publikum, dessen Beifall eine Dimension erreichte, die im versnobten Salzburg nicht die Regel ist: Dankbarkeit.

(w.g.)
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