Hamburg Wie viel Religion verträgt der Staat?

Hamburg · Heute beginnt der Evangelische Kirchentag in Hamburg. Seine Themen – Weltverantwortung, gerechtes Wirtschaften, Umverteilung – sind Dauerbrenner seit Jahrzehnten. Dabei lägen wirklich brisante Fragen buchstäblich auf der Straße.

Das "Miniatur-Wunderland" in der Hamburger Speicherstadt, nach eigenen Angaben die größte Modelleisenbahn der Welt, hat bereits eine Kirchentags-Szene aufgebaut: eine Großbildleinwand vor der Michaelis-Kirche ("Michel").

Das "Miniatur-Wunderland" in der Hamburger Speicherstadt, nach eigenen Angaben die größte Modelleisenbahn der Welt, hat bereits eine Kirchentags-Szene aufgebaut: eine Großbildleinwand vor der Michaelis-Kirche ("Michel").

Foto: dpa

Zu beneiden waren sie nicht, die 15 Männer und 15 Frauen des Präsidiums, die die Losung für den heute beginnenden Evangelischen Kirchentag in Hamburg auszuwählen hatten. Welcher Satz trifft den Nerv der bis zu 300 000 Gäste? Man entschied sich für "Soviel du brauchst". Das Motto ist angelehnt an das Buch Exodus: Die Israeliten lesen das himmlische Manna auf – und "jeder hatte so viel gesammelt, wie er zum Essen brauchte".

Nach dem gefühligen "Da wird auch dein Herz sein" von Dresden 2011 weist Hamburg wieder in Richtung des Eine-Welt-Protestantismus, dessen Stichworte faires Wirtschaften, Umverteilung, globale Verantwortung heißen. Man wolle sich "in faszinierender Intensität mit den entscheidenden Themen der Zeit" befassen, sagt die gastgebende Bischöfin Kirsten Fehrs. Es sind, Finanzkrise hin oder her, Themen, die die evangelische Debatte seit Jahrzehnten prägen – Sozialpolitisches mit Hang zum Diffusen.

"Soviel du brauchst" ist dazu beinahe beliebig anschlussfähig. So verklammert der Satz Kirchentagsfolklore ("Akrobatik zum Ausprobieren") mit den Debatten über Gerechtigkeit in Zeiten der Globalisierung – Überlappungen kommen vor. Andererseits verschwimmen dabei die Konturen. Seit einigen Jahren hat der Kirchentag ein Problem, politische Großthemen aufzuspüren und vor allem zu setzen.

Eklatant war das in Dresden, wo nur noch jeder Vierte Christ ist – und wo man fast ängstlich zu vermeiden suchte, von Mission und Rechristianisierung zu reden. Dass plötzlich das brisante Thema Afghanistan dominierte, lag nur daran, dass kurz zuvor vier Deutsche am Hindukusch gefallen waren.

2013, im vermeintlich urprotestantischen Hamburg, scheint der Kirchentag wieder ein Heimspiel zu haben. Doch auch hier leben nur noch 40 Prozent Christen. Passend dazu wird die Stellung der Kirchen in der deutschen Gesellschaft so heftig hinterfragt wie seit Jahrzehnten nicht: Das eigene Arbeitsrecht steht zur Debatte, ebenso die im 19. Jahrhundert gründenden Staatsleistungen an die Kirchen; in den Streit um stille Feiertage und um Kreuze in öffentlichen Gebäuden mischen sich inzwischen deutlich hörbar Stimmen, die eine radikale Trennung von Kirche und Staat fordern.

Es wäre nur logisch gewesen, in Hamburg möglichst häufig die Frage zu stellen, die auch eine Diskussion formuliert: "Wie viel Religion verträgt der Staat?" – auch wenn, ja gerade weil die Kirchen darauf bisher keine klare Antwort haben. Das Nachdenken darüber findet aber nur am Rande statt, buchstäblich: einige Gespräche in kleinerem Rahmen, abseits der großen Hallen.

Natürlich wissen auch die Veranstalter, dass für viele das Glaubensfest im Vordergrund steht, nicht politischer Erkenntnisgewinn. Die Massen werden wieder von großen Gottesdiensten, kirchlicher (Margot Käßmann, Nikolaus Schneider) und politischer Prominenz angezogen werden. Angesagt hat sich die komplette Staatsspitze: Bundespräsident Joachim Gauck, Bundestagspräsident Norbert Lammert, Kanzlerin Angela Merkel, mehrere Minister, Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, Grünen-Chefin Claudia Roth und und und. Ein Schelm, wer im Wahljahr Böses dabei denkt.

Immerhin schlägt sich die Bedeutung der 130 000 Muslime in Hamburg mit mehreren Veranstaltungen im Programm nieder. Seit 2012 sind in Hamburg per Staatsvertrag fünf muslimische Feiertage kirchlichen Feiertagen wie Fronleichnam und Allerheiligen gleichgestelt. Zudem beschäftigt die Hamburger die Frage, ob Kirchen zu Moscheen umgewandelt werden können – so geschehen jüngst mit der Kapernaum-Kirche im Stadtteil Horn. "Wir möchten möglichst viele Menschen erreichen, nicht nur die evangelischen Glaubens", sagt Kirchentagspräsident Gerhard Robbers dazu. Auch die Gespräche zum Islam aber finden nicht vor Massenpublikum statt, sondern in einer Moschee und in einem Uni-Hörsaal.

Dabei steckt im Thema "Wie viel Islam passt zum Staat?" wohl der größte Gesprächsbedarf. Gerade hat die Bertelsmann-Stiftung festgestellt, 51 Prozent der Deutschen empfänden den Islam als Bedrohung; fast zwei Drittel sehen in wachsender religiöser Vielfalt eine Ursache für Konflikte. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) beschränkte sich darauf, in Gestalt ihres Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider ein verzerrtes Bild des Islam zu beklagen, während der Zentralrat der Muslime selbst seine Mitglieder zu mehr Offenheit ermunterte. Den Dialog mit den muslimischen Verbänden führt die EKD derweil in Form eines in großen Abständen tagenden Gesprächskreises hinter verschlossenen Türen.

Dabei war man schon einmal so weit, auch auf Kirchentagen offene Worte über das gegenseitige Verständnis zu wagen, auch wenn das nicht ohne Streit und verbale Missgriffe auf beiden Seiten abging. 2007 war das, in Köln; gerade hatte die EKD eine "Handreichung" veröffentlicht, die viele Muslime als herablassend empfanden. Das Kirchentagsmotto damals? "Lebendig und kräftig und schärfer".

(RP)
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