William Boyd spielt mit Fakten und Fiktionen

Als sie das erste Mal eine Fotokamera in den Händen hält und - mehr zufällig - auf den Auslöser drückt, ist Amory Clay ein siebenjähriges Mädchen. Doch von nun an ist es um sie geschehen. Die Möglichkeit, fotografierend die Welt abzubilden, dabei eine neue Wirklichkeit zu erschaffen und sich selbst als beobachtende und verändernde Künstlerin kreativ zu erfahren, lässt sie zeitlebens nicht mehr los.

Sie wird die feine Gesellschaft in London ablichten und mit erotischen Foto-Exkursionen durch die Sex-Kaschemmen des auf dem Vulkan tanzenden Berlin der beginnenden 1930er Jahre für einen Skandal sorgen. Sie wird mit ihrer Kamera den Wahnsinn des Weltkrieges und das Schlachten in Vietnam festhalten und mit ihren preisgekrönten Fotos der Welt die fürchterliche Wahrheit von Tod und Terror vor Augen führen.

Amory Clay ist eine starke, selbstbewusste Frau und eine mutige und große Künstlerin. Oder sind ihre Fotos, die uns William Boyd in seinem Buch zeigt, und sind die Erinnerungen, die der Autor mit seinen Worten spiegelt, doch nur eine Lüge, pure literarische Fiktion? Denn wieder einmal spielt der britische Autor William Boyd furios mit Fakten und Fiktionen, entwirft vor dem Hintergrund eines Epochengemäldes das Porträt einer starken Frau. Und erneut präsentiert er uns dokumentarische Materialien als vermeintliche Kunstprodukte eines Menschen, den es so nie gegeben hat. Denn Amory Clay ist eine Erfindung, und all die im Roman "Die Fotografin" abgedruckten Fotos hat Boyd auf Flohmärkten und bei Wohnungsauflösungen gefunden. Er beschriftet die Fotos, gibt ihnen Titel und den abgebildeten Personen Namen, doch alles ist nur ein fein ausgetüfteltes ironisches Spiel, um uns zu zeigen, wie leicht es ist, Wirklichkeiten zu kreieren und Personen Leben einzuhauchen.

"Die Fotografin" ist ein grandioser Künstlerroman, das Porträt einer Frau, die sich ihren Weg in einer von Männern dominierten Welt bahnt. Es ist aber auch ein Buch über Männer, die vom Trauma der Kriege gezeichnet sind und ihren Bedeutungsverlust in der emanzipatorischen Moderne nur schwer verkraften können.

(RP)
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