"Wir brauchen Literatur mehr denn je"

Die 51-jährige britische Autorin Alison Louise Kennedy wird am Sonntag mit dem Düsseldorfer Heinrich-Heine-Preis ausgezeichnet.

London Alison Louise Kennedy zählt zu den literarisch und auch essayistisch spannendsten britischen Autorinnen der Gegenwart. Mit Romanen, Kurzgeschichten, Blogs, Essays und auch Zeitungskolumnen erzählt die 51-Jährige vom Leben und mischt sich unerschrocken und kompromisslos in die Fragen der Gegenwart ein. "Ihr Blick auf politische und soziale Zustände schärft gesellschaftliche Diskussionen", nannte das die Jury zum Düsseldorfer Heine-Preis. Am Sonntag wird der Britin in einem Festakt die mit 50.000 Euro dotierte Ehrung übergeben.

Gibt es größere Themen für Geschichten als die Liebe und den Tod?

Kennedy Mag sein. Aber selbst diese würden den Wunsch nach dem Tod mit sich bringen oder auch seine Vermeidung - oder die Liebe zu etwas, wie etwa Freiheit, Gerechtigkeit, Weisheit, Frieden. Menschen ticken ja ziemlich einfach, wenn wir über Grundlegendes nachdenken.

Hat es Sie selbst irgendetwas gelehrt, über die Katastrophe des Lebens zu schreiben oder nur über den gewöhnlichen Horror des Alltags?

Kennedy Es lehrt einen, dass Geschichte sich wiederholt. Dass die Mächtigen oft schwach sind und die meisten Katastrophen hätten vermieden werden können. Und dass nur wenige Leute sich darum bemühen, sie zu vermeiden. Wir haben in den vergangenen 30 Jahren einen großen Schub weg von der Realität, der Geschichte und dem Wissen erlebt. Das ist eine ziemlich gefährliche Entwicklung, denn die Realität kümmert es wenig, ob wir an sie glauben oder nicht. Sie geschieht einfach. Und sie ist genau der Ort, an dem wir leben müssen.

Kann man literarisches Schreiben erlernen, so wie Sie es unterrichten?

Kennedy Sagen wir einmal so: Es ist möglich zu helfen, einige sehr einfache und früh auftretende Probleme zu vermeiden. Und man kann natürlich eine Richtung zeigen, die nützlich sein könnte; oder auf Entscheidungen drängen, die getroffen werden müssen. Viel mehr kann man nicht lehren, weil das Schreiben mit Freiheit zu tun hat, mit der jeweiligen Persönlichkeit und dem Wunsch, der Wahrheit zu dienen. Das bedeutet, dass man Fehler macht. Jemandem seine Fehler zu nehmen bedeutet, ihm seine Entwicklungsmöglichkeiten zu rauben.

Was unterscheidet eine gute Geschichte von einer schlechten?

Kennedy Einfach alles - also: der Gebrauch der Sprache, die Entfaltung der Psychologie und des Personals, die inneren Monologe, die zentralen Motive, das Finden eines Erzähltons, der Gebrauch von Metaphern, die Handlung und der Titel, die Schlussfolgerung und die Musikalität, natürlich die Leidenschaft und die Wahrheit - all das muss einfach stimmen. Und jeder Teil davon muss sich auf alle anderen Teile gut und schön beziehen. Bei einer guten Geschichte gelingt das. Aber scheitert nur ein Teil, dann scheitert gleich die ganze Geschichte.

Sie sind bekannt als ein politisch überaus interessierter Mensch, etwa in Ihrer Auseinandersetzung mit Tony Blair. Was denken Sie jetzt über den Brexit, also die Entscheidung der britischen Mehrheit wieder einen eigenen Weg in Europa zu gehen?

Kennedy Das stimmt nicht ganz: Die Mehrheit der britischen Wähler hat gar nicht gewählt oder gegen den Brexit gestimmt. Unserer Regierung ist aber sehr daran gelegen, uns aus den Menschenrechten und Wirtschaftsgesetzen der Europäischen Union zu entfernen, um den Wohlfahrtsstaat hierzulande weiter einzuschränken und uns zu einer Art kleines Argentinien der 1970er Jahre zu machen. Wissen Sie, wir haben eine Polizei, die bereit ist zu foltern, wir haben einen Geheimdienst, der bereit ist zu foltern. Und dass der größte Teil der britischen Armee vom nächsten Jahr an in Großbritannien stationiert sein wird - zum ersten Mal seit Beginn des Empires - finde ich ziemlich beunruhigend. Unser politisches Personal ist nicht unbedingt faschistisch im ideologischen Sinne, aber sie sind gierig und spüren einfach, dass ihre eigene soziale Schicht reicher wird, wenn das Land weiter nach rechts rückt; während der Neokonservatismus scheitert und die Echos von Tony Blairs Kriegen im Mittleren Osten weiter zu hören sind, Länder zerstören und immer mehr Flüchtlinge hervorbringen.

Was kann Literatur in Zeiten von Populisten wie Donald Trump oder Wladimir Putin bewirken?

Kennedy Literatur kann, was sie schon immer konnte: Das Denken der Menschen verändern und ein tief-verankertes Bewusstsein für den Anderen in ihm erzeugen. Das ist ein privates und unzensiertes Vergnügen. Es schenkt Bindung und Ruhe in Zeiten der Verhärtung und ist eine dauerhafte Inspiration. Das ist praktizierte Vorstellungskraft, dieselbe Vorstellungskraft, die Veränderungen herbeiführt. Das ist alles, was wir brauchen, aber wenn wir es vergessen, werden Populisten mächtig, die Lügen über die Natur des Menschen verbreiten, über die Realität und darüber, was Erfolg bedeutet. Belletristik, die versucht, gute Vorstellungen zu entwickeln statt schlechter Lügen, muss die Wahrheit über den Menschen und die Wirklichkeit erzählen. Das brauchen wir mehr denn je. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen übrigens die psychologische Wirkung des Romanelesens.

Sorgen Sie sich um den sozialen Frieden in Europa?

Kennedy Die ganze Zeit.

Was verbindet sie mit Heinrich Heine?

Kennedy Ich fühle eine große Sympathie, wenn ich ihn lese. Aber es wäre wohl zu viel, von einer Verbindung zu reden. Manchmal amüsiert er mich und er gibt mir das Gefühl, dass wir nicht das Recht haben, so viel Kostbares zu vergessen, das er schon vor so langer Zeit erkannt hat.

Wie würde Heinrich Heine heute schreiben? Wäre er ein Blogger?

Kennedy Wahrscheinlich wäre er heute alles mögliche. Aber ein Blogger, das glaube ich eher nicht. Er liebte es doch, gelesen und dafür bezahlt zu werden und Qualität zu produzieren - das ist als Blogger nicht immer einfach.

(los)
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