Interview mit Chris Kraus "Wir haben zu viel verdrängt"

Der Regisseur hat einen komischen und hysterischen Film gedreht über die Liebe zwischen Menschen, die der Holocaust nicht loslässt.

Düsseldorf Schon mit seinem Drama "Poll" hat Chris Kraus die Geschichte seiner Familie, die aus dem Baltikum stammt, in Fiktion verwandelt. Nun erzählt er in "Die Blumen von gestern" in einer Mischung aus Komödie und Drama von der Enkelin einer Holocaust-Überlebenden, die sich in den Nachfahren eines SS-Offiziers verliebt.

Eine Liebeskomödie zwischen zwei psychisch gestörten Menschen, deren Familiengeschichten über den Holocaust verbunden sind - was für ein Genre haben Sie da geschaffen?

Kraus Ich wollte unbekanntes Land betreten, mich auf neue Weise mit dem Abgrund des Holocausts beschäftigen. Ein wenig wie Roberto Benigni. Dessen Film "Das Leben ist schön" changiert ja zwischen Komödie und Tragödie und hat mir gezeigt, dass es lauter ist, sich bei diesem Thema mit allen Versatzstücken aus dem Schatzkästchen des Erzählens zu bedienen.

Was hat Sie getrieben, von den Problemen der eigentlich so unverdächtigen dritten Generation nach dem Holocaust zu erzählen?

Kraus Na, ich selbst bin aus dieser dritten Generation! Mein Großvater war SS-Offizier, das habe ich vor 15 Jahren in einer Weise erfahren, die mich verblüfft und erschüttert hat.

Das war ein Familiengeheimnis?

Kraus Ich wusste es und habe es trotzdem nicht gewusst. Es ist erstaunlich, wie stark man schmerzliche Dinge übersieht, obwohl sie einem ständig begegnen. Ich wusste, dass mein Großvater die Nationalsozialisten großartig fand. Aber ich habe das in harmlosen Geschichten erfahren. Mir hat er erzählt, wie er Sport gemacht hat, viele Freunde fand, viel herumkam im Krieg, wie sich alle in der Welt gefreut haben, wenn die Deutschen kamen und aufgeräumt haben. Von der anderen Seite des Krieges habe ich von ihm nichts erfahren, bis ich vor fünfzehn Jahren ein Buch in die Hand bekam über baltendeutsche Offiziere in den SS-Einsatztruppen. Da waren mein Großvater und seine Brüder aktiv und haben viele Menschen getötet. Ich habe das über zehn Jahre recherchiert und wurde darüber zum Holocaustexperten. Ich habe ein Sachbuch für meine Familie und einen düsteren Roman geschrieben.

Und ein tragikomisches Drehbuch.

Kraus Ja, weil ich es irre fand, dass in diesen Archiven eine gelöste Stimmung herrscht. Das war eine Ungezwungenheit im Umgang, vor allem bei den jüdischen Enkeln der Holocaust-Opfer. Dann hörte ich von einer Liebesgeschichte zwischen den Enkeln eines Opfers und eines Täters - so entstand der Film.

Wenn es ganz unerträglich wird, beginnt der Mensch zu lachen.

Kraus Genau, wenn eine Situation nicht mehr auszuhalten ist, setzt hysterisches Lachen ein - Hysterie habe ich in meinem Film ja tatsächlich ausgepackt. Trotzdem mache ich mich über meine Figuren nicht lustig, das sind ja schon sehr versehrte, gestörte, fast bizarre Typen, die mir aber sehr nahe sind.

Kennen Sie Harald Welzers Buch "Opa war kein Nazi" über die Unfähigkeit in Familien, nach der Nazivergangenheit ihrer Angehörigen zu fragen?

Kraus Das kenne ich in- und auswendig! Wegen dieses Buches habe ich so viel darüber nachgedacht, warum es in Deutschland diese Schere gibt zwischen öffentlichem Gedenken, das man fast Gedenkkult nennen muss, und dem Entschulden der persönlichen Vergangenheit der Täter durch die Enkelgeneration. Man weiß, dass Auschwitz schrecklich war, aber es hat mit kaum jemandem persönlich zu tun. Obwohl ich Geschichte studiert habe, ist es auch mir so gegangen: Ich habe meinen Opa nicht konfrontiert. Meine Familie kommt aus dem Baltikum, die Fluchtgeschichten haben die Tätergeschichten immer überlagert. So war jeder ein Opfer. Und am Ende haben Nazis aus dem Weltall Unglück über uns alle gebracht.

Das kann man Ihrem Film auch vorwerfen: Der deutsche Täter-Enkel leidet genauso an der Vergangenheit der Familie wie die Enkelin einer Holocaust-Überlebenden - und Sie können beide zum Liebespaar vereinen.

Kraus Wer soll denn da der Täter sein?

Es geht ja gerade um das Verschwinden von Täterschaft. Der deutsche Enkel leidet an der Vergangenheit und der deutsche Zuschauer kann sich ohne Probleme identifizieren, Täter sind nicht mehr im Weg.

Kraus Finde ich nicht. In dieser Geschichte kann sich mit dem deutschen Enkel erstmal niemand identifizieren. Er wird fast verrückt wegen der Vergangenheit, ist eine schwierige, gewalttätige Persönlichkeit. Seine Gefährtin genauso. Darum war es auch schwer, den Film zu finanzieren. Ich zeige alle Figuren als Gefangene ihrer selbst. Sie sind ambivalent, auch die Holocaustüberlebende ist hier eben keine sympathische alte Dame. Natürlich hat das Diskussionen ausgelöst.

Darf man das so darstellen?

Kraus Natürlich. Ob jemand sympathisch ist oder nicht, darf ja kein Kriterium sein, wenn es um die Vernichtung von Menschen geht. Ambivalenz auszuhalten, ist anstrengend, aber genau darum geht es mir.

Was müsste sich an der deutschen Erinnerungskultur ändern, damit sie nicht zum Erinnerungskult wird, der niemanden etwas angeht?

Kraus Ich tue mich schwer mit Ratschlägen für dieses Wir. Ich habe in meiner Familie angefangen, und es war schwer genug, in diesem Kreis durchzusetzen, schmerzvolle Wahrheiten anzuerkennen. Die Mechanismen der Verdrängung sind wirksam, das bigotte Nichtwissenwollen hat große Kraft. Trotz aller Gedenkveranstaltungen haben wir vieles noch gar nicht verarbeitet. Sich dem zu stellen, was noch nicht bewältigt ist, das halte ich für unerlässlich.

Schon haben wir eine neue Rechte in Deutschland.

Kraus Ja, als ich den Film schrieb, hatte die Geschichte noch nicht diese Aktualität. Wenn Dinge nicht erledigt sind, kommen sie zurück. Wer hätte vor fünf Jahren gedacht, dass Populismus auf so fruchtbaren Boden fallen könnte. Ich denke, dass das damit zu tun hat, was wir durch die Überbewältigung hindurch historisch verdrängt haben. Die Nazi-Vergangenheit ist nicht erledigt.

(dok)
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