Das Auto lernt räumliches Sehen

Das moderne Auto kommt nicht mehr ohne Kameras aus. Die Videotechnik verhindert so manchen Parkrempler. Auch Assistenten, die vor dem Crash im fließenden Verkehr bewahren, wären ohne die hilfreichen Linsen nicht denkbar.

Heute schmunzeln wir darüber: Noch zu Beginn der 1990er Jahre baute Mercedes der S-Klasse Peilstäbe ein. Die Teile fuhren am hinteren Kotflügel als optische Orientierungshilfe aus, um dem Fahrer das Rangieren mit der ausufernden Karosse zu erleichtern. Angesichts der Hightech-Lösungen, die seitdem fürs Parken und alle möglichen Situationen ins Leben des Autofahrers Einzug gehalten haben, mutet diese mechanische Hilfestellung fast schon niedlich an.

Mittlerweile sind die Nachfolger der Peilstäbe, die Ultraschallsensoren, die als "Parkpiepser" ihren Dienst leisten, auch schon fast veraltet - sofern sie nicht an Kamerasysteme gekoppelt sind. Einparkhilfen mit Rückfahrkameras gibt es selbst schon für viele Kleinwagen. Aber die Evolution ist unaufhaltsam: Als "natürliche Weiterentwicklung" sieht Nissan seinen Around View Monitor. 2007 gab die Technik ihren Einstand in der nur in Japan verkauften Großraumlimousine Elgrand. Bei anderen Herstellern heißen die verfügbaren Systeme Surround View (BMW), 360°-Kamera (Mercedes) oder Area View (VW). Sie alle liefern dem Fahrer Bilder vom gesamten Fahrzeugumfeld, die beim Rangieren, Parken oder Einfädeln bei unübersichtlichen Straßenverhältnissen helfen sollen.

In der Regel werden die Informationen von vier oder fünf Kameras, die rund ums Fahrzeug angebracht sind, in einer Rechnereinheit kombiniert. Errechnet werden Seitenansichten und Draufsichten, die die Autobauer oft mit "Bird's-Eye-View" bewerben (Vogelperspektive). Mittlerweile ist die virtuelle Vogelperspektive bis in die Kleinwagenklasse vorgedrungen. "Wir hatten bei Markteinführung des Note 2013 im B-Segment das Alleinstellungsmerkmal", sagt Nissan-Sprecherin Ulrike vom Hau. BMWs Surround-View vom Zulieferer Valeo ist nach Angaben von Pressesprecherin Michaela Wiese überhaupt erst seit Juli 2013 verfügbar.

Doch künstliche Augen an Bord von Autos können noch weit mehr leisten. Sie beobachten den Fahrer, um ihn bei Müdigkeit zu warnen. Und ohne sie wären auch weitere moderne Assistenzsysteme zur Verkehrszeichenerkennung, der Spurhaltung, dem Notbremsen oder zur Warnung vor Kollisionen gar nicht denkbar. Nur mit den optischen Linsen werden Objekte wie Fahrzeuge und Fußgänger verlässlich erkannt und die notwendige Informationen generiert. Zugrunde liegen spezielle Bildverarbeitungsalgorithmen, erläutert Matthias Zobel, Entwickler beim Zulieferer Continental.

Die derzeit gängigen Monokameras mit nur einem Objektiv eignen sich für Notbremsassistenten allerdings nur bedingt, erläutert Bosch-Sprecher Stephan Kraus. Das sieht man beim Konkurrenten Continental, der eine Stereokamera seit gut einem Jahr in Serie anbietet, ähnlich: "Während die Monokamera Distanzen lediglich schätzt, kann die Stereokamera den Abstand zum Objekt sowie dessen Höhe über der Straße messen", heißt es in einer Mitteilung. Entwickler Zobel erläutert: "Durch den Versatz der Bilder wird räumliches Sehen möglich." Und damit die exaktere Entfernungsmessung.

Die Bildverarbeitungsalgorithmen seien viel leistungsfähiger, die Fahrassistenten könnten durch das Zusammenspiel der beiden künstlichen Augen verfeinert werden. Auch Fußgänger, Fahrzeuge und Spuren könnten präziser erfasst werden. Da Videoaugen aber nicht unendlich weit sehen, werden auch Stereokameras ab gewissen Distanzen noch durch Radarsensoren ergänzt, so Bosch-Sprecher Kraus.

Noch sind Stereokameras nicht sehr weit verbreitet. Selbst Zulieferer Bosch hat sein Serienprodukt erst für Ende 2014 angekündigt. Umso größer ist die Bedeutung, die der Technik beigemessen wird: "Künftig werden im Euro NCAP Crashtest fünf Sterne nur noch bei vorhandener vorausschauender Notbremsfunktion vergeben", sagt Kraus. Und die ist ohne die wachsamen Kameralinsen nicht realisierbar. "Videosensoren sind eine noch recht junge, aber stark wachsende Technik."

Eine automobile Zukunftsmusik wäre ohne Videotechnik nicht denkbar: das autonome Fahren. Conti-Entwickler Zobel sagt: "Kameras sind ein essenzieller Bestandteil, ohne sie wird es nicht funktionieren, nur sie können die Verkehrssituationen oder rote Ampeln lesen."

(DPA-TMN)
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