Neue Wunderwaffe gegen Raser

Nach europäischem Vorbild kommt "Section Control" nun nach Deutschland. Das Streckenradar hat sich als effektives Mittel gegen Raser erwiesen, verlangt aber einen hohen Preis ab: den gläsernen Autofahrer.

Big Brother? Damit kann Geoff Collins nichts anfangen. "Ich würde eher von einem Schutzengel sprechen, der die Menschen vor sich selbst bewahrt." Eine bizarre Vorstellung, aber was soll der Mann anderes sagen? Collins ist Firmensprecher von Vysionics, dem Marktführer von Verkehrskameras in Großbritannien. Seit 16 Jahren ist dort ein System im Einsatz, das im Laufe des Jahres auch nach Deutschland kommt: "Section Control" - die Geschwindigkeitsmessung über einen längeren Abschnitt.

Während Radarfallen nur an einem einzigen Punkt blitzen, lässt sich durch Section Control ein längerer Abschnitt überwachen. Dafür werden Verkehrsteilnehmer zweimal fotografiert: am Anfang und am Ende der betreffenden Strecke. Anhand der Zeit, die sie für den Weg benötigen, lässt sich ihre Durchschnittsgeschwindigkeit berechnen. "Das ist simple Mathematik", sagt Collins, "weshalb die Anlagen viel zuverlässiger arbeiten als Blitzer." Sein wichtigstes Argument: "Die Unfallzahlen sinken dramatisch."

Auf der A9 in Schottland, auf der im Oktober 2014 ein 220 Kilometer langes Streckenradar installiert wurde, sei die Zahl der Raser um 97 Prozent gesunken. Offenbar ist das mehr als nur eine PR-Phrase: Selbst der Chef der schottischen Verkehrspolizei räumte in einem BBC-Interview ein, das neue System habe einen "äußerst positiven Einfluss" auf die Fahrer. Drei Monate, nachdem die drei Millionen Pfund (4,1 Millionen Euro) teure Anlage installiert wurde, sei die Zahl der Unfälle bereits um ein Fünftel zurückgegangen.

Von solchen Zahlen beflügelt, will Niedersachsen als erstes Bundesland die Technik nach Deutschland bringen. Innenminister Boris Pistorius (SPD) verspricht sich davon vor allem einen Rückgang der Unfalltoten. Als Teststrecke soll ein drei Kilometer langer Abschnitt auf der B6 zwischen Gleidingen und Laatzen (bei Hannover) dienen. "Seit 2011 gab es dort 28 Verkehrsunfälle, bei denen insgesamt zehn Personen leicht, drei schwer und zwei sogar tödlich verletzt worden sind", heißt es aus dem niedersächsischen Innenministerium. 200 000 Euro kostet das System auf der drei Kilometer langen Strecke.

Wann genau die ersten Raser erwischt werden, steht allerdings bis heute nicht fest. Mehrmals schon wurde der Zeitplan verschoben, nun sollen ab Herbst die ersten Tests beginnen, gefolgt vom Echtbetrieb Anfang 2016. Nach wie vor herrscht Unklarheit darüber, ob die Anlage die gesetzlichen Anforderungen erfüllt - noch immer hat die niedersächsische Datenschutzbeauftragte Barbara Thiel keine Genehmigung erteilt. "Wir haben etliche Bedenken", sagt sie. So sei noch immer nicht klar, ob die Fotos verschlüsselt würden, bevor sie das System per Funk an die Polizei übermittle. Auch die Genehmigung der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) steht noch aus.

Gebaut wird die Anlage vom Thüringer Technologiekonzern Jenoptik, zu dem seit vergangenem Jahr auch der britische Kameraproduzent Vysionics gehört. Jenoptik betätigt sich schon lange im Section-Control-Geschäft, unter anderem in Österreich, wo die Kameras seit 2003 im Einsatz sind. Die österreichische Autobahngesellschaft ASFINAG sagt, Section Control habe zu einer "erfreulichen Tempodisziplin" geführt. Im Kaisermühlen-Tunnel, wo die erste Anlage dieser Art installiert wurde, sei die Durchschnittsgeschwindigkeit um 15 km/h zurückgegangen. Auch habe es im Tunnel seither keine Todesopfer mehr gegeben.

Es ist also durchaus verständlich, dass Verkehrsexperten die neue Technik begrüßen. Doch so verlockend die Wunderwaffe gegen Raser auch sein mag, so groß ist das Missbrauchspotenzial in den Augen ihrer Kritiker. "Geschwindigkeitskontrollen können niemals den gläsernen Autofahrer rechtfertigen", mahnt etwa der niedersächsische FDP-Landtagsabgeordnete Jörg Bode. In Schleswig-Holstein, wo die Landesregierung ebenfalls mit Section Control liebäugelt, kämpft die Piratenpartei massiv dagegen an. "Nach geltendem Recht ist es illegal, gesetzestreue Autofahrer zu fotografieren", kritisiert etwa der Landtagsabgeordnete Patrick Breyer. "Section Control ist teuer, fehleranfällig und leistet einer zukünftigen Zweckentfremdung der Daten Vorschub - bis hin zur Erstellung von Bewegungsprofilen." Der schleswig-holsteinische Datenschutzbeauftragte Thilo Weichert spricht von einem "Grundrechtseingriff" und "anlassloser Verarbeitung von personenbeziehbaren Daten".

In Deutschland ist die Nutzung der Fotos an strenge Auflagen gebunden. So dürfen sie nur zur Tempomessung genutzt werden, nicht aber zur Verfolgung anderer Straftaten. Liegt kein Verstoß vor, müssen die Fotos an Ort und Stelle gelöscht werden. Doch das Misstrauen der Kritiker sitzt tief, zumal der NSA-Skandal und zuletzt die Hacker-Attacke auf den Bundestag gezeigt haben, wie schnell sich IT-Systeme unterwandern lassen. Der grüne Europa-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht hält die Skepsis für angebracht: "Hinter der Einführung solcher Technologien steht mit Sicherheit auch das Interesse der Sicherheitsbehörden an personenbezogenen Kfz-Daten."

Der Blick nach Großbritannien zeigt, dass solche Vermutungen gar nicht so weit hergeholt sind. Zwar dürfen auch dort die Section-Control-Kameras nur genutzt werden, um Tempoverstöße festzustellen. Oft hängt direkt neben der Anlage aber eine baugleiche Kamera, die Nummernschilder automatisch erfasst und mit einer Polizei-Datenbank abgleicht - betrieben von derselben Firma.

(RP)
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