Wie werde ich..? Am Puls der Stadt: Streetworker kennen keine No-go-Areas

Ihren Arbeitstag verbringen sie auf Parkplätzen, in Einkaufszentren und Hinterhöfen. Streetworker kümmern sich um Jugendliche, Obdachlose und Drogenabhängige. Wer hier unterwegs ist, erlebt viele traurige Geschichten. Doch er kennt die Stadt auch mit all ihren Facetten.

Punks, Emos und Gruftis: Am Alexanderplatz in Berlin ist fast jede Subkultur vertreten. Die Jugendlichen sitzen auf den Stufen vor der Filiale einer Fast-Food-Kette, treffen sich an der Weltzeituhr oder sammeln sich auf den Bänken rund um den Fernsehturm. Ulf Siegel geht auf alle gleichermaßen zu: "Wie geht's? Wie sieht's aus?" Wer hier öfter herumhängt, wird irgendwann seine Bekanntschaft machen. Der 51-Jährige ist Streetworker am Alexanderplatz. Jenem Platz, der immer wieder wegen Schlägereien in den Schlagzeilen steht. In Erinnerung ist vielen noch die tödliche Prügelattacke von 2012 auf Jonny K.

Streetworker - oder zu deutsch Straßensozialarbeiter - arbeiten in sozialen Brennpunkten. Sie versuchen jene zu erreichen, die keine Hilfe wollen oder die nicht in der Lage sind, sich Hilfsangebote zu organisieren. Das können Obdachlose oder Drogenabhängige sein oder Jugendliche, die im öffentlichen Raum ihre Freizeit verbringen, weil sich im schlimmsten Fall niemand um sie kümmert. Dabei ist Streetwork streng genommen kein Berufsbild - sondern eine Methode in der Sozialarbeit. Das Konzept stammt aus den USA. In Deutschland gibt es Sozialarbeiter, die auf der Straße arbeiten, seit den 1960er Jahren.

Am Berliner Alexanderplatz hängen regelmäßig bis zu 100 Jugendliche ab, schätzt Siegel. Sein erstes Ziel: mit ihnen bekannt sein. Dass er Hilfsangebote macht, kommt später. Nicht jeder Jugendliche, der am Alex abhängt, braucht Unterstützung. Aber es gibt durchaus welche, um die sich zu Hause niemand kümmert. Wenn sie Probleme haben, versucht Siegel zu helfen. Die Schwierigkeiten sind dabei ähnlich vielfältig wie die Zahl der Subkulturen am Alexanderplatz: Mal begleitet er Jugendliche zu Gericht, anderen hilft er bei der Ausbildungsplatz- oder Wohnungssuche. Er hat auch schon Kindergeburtstage organisiert. "Ich bin Mutter, Vater, Onkel, Tante und Experte. Das geht querbeet", sagt Siegel.

Siegel ist bei Gangway angestellt, einem privaten Verein in Berlin, der Straßensozialarbeit macht. So etwas gibt es zum Beispiel auch in Bremen bei dem Verein Vaja. Daneben sind Streetworker bei Kommunen oder bei der Kirche angestellt. Schätzungsweise gibt es rund 800 Arbeitgeber in Deutschland, die Streetworker brauchen, erzählt Marco Brockmann. Er ist im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork/Mobile Jugendarbeit und selbst als Streetworker in Osnabrück aktiv. Trotzdem seien die Stellen rar gesät.

Streetworker Siegel hat zu DDR-Zeiten Elektronikermeister gelernt.
Als ihm die Arbeit keinen mehr Spaß machte, kam er über Umwege als Quereinsteiger zur Sozialarbeit. Wer heute Streetworker werden will, braucht jedoch in der Regel ein Studium, erklärt Paul Ebsen von der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. Mögliche Studiengänge sind zum Beispiel Sozialpädagogik, Soziale Arbeit oder Erziehungswissenschaften. Auf jeden Fall sollten Jugendliche vorher ein Praktikum machen, um zu sehen, ob es etwas für sie ist.

"Man muss schon einmal den einen oder anderen Spruch aushalten, und man ist draußen auf der Straße, nicht im geschützten Büro", warnt Brockmann. Hinzu kommen für viele die unbequemen Arbeitszeiten. Vormittags sind die Jugendlichen in der Regel in der Schule. Der Haupteinsatz ist für Streetworker in der Jugendarbeit deshalb am Nachmittag, Abend und am Wochenende. Auch wer mit anderen Zielgruppen wie Obdachlosen, Prostituierten oder Drogenabhängigen arbeitet, hat alles andere als einen Nine-to-five-Job.

Wie viel Streetworker verdienen, ist unterschiedlich. Es hängt vom Bundesland ab und davon, ob Arbeitnehmer bei einem privaten oder öffentlichen Arbeitgeber angestellt sind. Wer etwa für eine Kommune arbeitet, wird nach dem Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes bezahlt. Dort können Berufseinsteiger mit rund 2500 Euro brutto rechnen.

Siegel würde seinen Job trotz der oft ungewöhnlichen Arbeitszeiten immer wieder wählen. "Ich bleibe jung", sagt er. Er sei auch mit 51 Jahren noch abends unterwegs und wisse, was in der Szene los ist. Einen Alltag gibt es für ihn nicht. Und jeder Jugendliche, zu dem er Kontakt aufbaut, sei anders und bedeute für ihn neue Erfahrungen und Herausforderungen.

Doch er erlebt auch immer wieder Rückschläge. "Einmal habe ich einem Jugendlichen zu einer Arbeit und zu einer Wohnung verholfen und ein Jahr später treffe ich ihn bei einer Drückerkolonne wieder", erinnert er sich. Er stört sich zunehmend auch am Anspruchsdenken der Jugendlichen. "Wenn ich heute anbiete, eine Gruppe zum Bowlen oder Billard spielen einzuladen, lockt das niemand hinter dem Ofen hervor", erzählt er.

Gleichzeitig sei Hunger nach wie vor ein großes Problem: Letztens hatte er ein Geschwisterpaar kurz in der Teamküche zu Gast. Bei Gangway hat jedes Team eigene Büroräume mit einem Raum zum Kochen. Siegel verließ kurz den Raum. Als er wiederkam, hatte der Jüngere der beiden die ganzen Schränke schon nach etwas Essbarem durchwühlt.

(dpa)
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