Ära des Arbeitswahns Wann es Zeit für ein klares "Nein" ist

München · Mails bis tief in die Nacht, Überstunden-Wettstreit mit den Kollegen: Der Arbeitswahn hat für Martin Wehrle bedenkliche Formen angenommen. Nicht um besseres Zeitmanagement sollten sich Arbeitnehmer bemühen, rät der Karriereberater, sondern um ihre Fähigkeit, "Nein" zu sagen.

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Foto: ddp, ddp

Stress, Überstunden und das Gefühl, in einem ausweglosen Hamsterrad zu stecken: Es mag kaum verwundern, dass Bücher zu Zeitmanagement und Arbeitsorganisation die Ratgeber-Regale fluten. Der Karriereberater Martin Wehrle hält davon wenig. Die Botschaft seines Buches "Bin ich hier der Depp?" ist eindeutig: Nicht den Umgang mit immer größerer Überlastung sollten Arbeitnehmer trainieren, sondern das "Nein"-Sagen.

Martin Wehrle schreibt für Medien wie "Die Zeit" und "Spiegel Online", er hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht ("Ich arbeite in einem Irrenhaus"). Sein neuer Ratgeber basiert vor allem auf Fallbeispielen und Medienberichten zu Umfragen und Studien. Zunächst werden typische Situationen wie verschobene Feierabende, Projekte mit Termindruck und absurde Multitasking-Anforderungen hinterfragt. Im zweiten Teil motiviert Wehrle den Leser mit "Depp-Faktor-Test", psychologischen Kniffen und "Tipps zum Nein-Sagen", dem Arbeitswahn klare Riegel vorzuschieben.

"Muss es uns beunruhigen, dass Arbeitnehmer in Deutschland pro Jahr drei Milliarden Überstunden leisten, die Hälfte davon unbezahlt? Dass jeder dritte Vorgesetzte von seinen Mitarbeitern erwartet, bei Krankheit weiterzuarbeiten? Dass jeder vierte Arbeitnehmer keine Zeit mehr für seine Pausen hat?", schreibt Wehrle. "Ja, es muss!"

Das größte Märchen seit "Hänsel und Gretel"

In der Arbeitswelt habe es eine unselige Entwicklung gegeben: Ob Billiglöhne, befristete Verträge oder Überstunden - stets schöben die Unternehmen die Globalisierung als Ausrede vor. "Das Globalisierungs-Gejammer der Firmen ist das größte Märchen seit "Hänsel und Gretel", nur dass diesmal keine Hexe in den Ofen geschoben wird, sondern Mitarbeiter verheizt werden."

In den Chefetagen steige eine rauschende Globalisierungs-Party. Bei den Mitarbeitern aber - dem Rest, der Rotstift-Aktionen überlebt habe - lande nur der Fluch der Globalisierung, die gestiegene Arbeitslast. Wehrle lässt einen Arbeitnehmer erzählen, den sein Chef vom Familienurlaub am Nordkap wieder ins Büro zitierte, und einen, der einen Arbeitsunfall nicht als solchen angeben sollte, weil er die maximal erlaubte Arbeitszeit - wie häufig - um Stunden überschritten hatte.

Entscheidend sei oft das Verhalten des Chefs, sein Arbeitsgebaren ist Wehle zufolge "ansteckend wie eine Krankheit". Dies gelte für seine Anwesenheit im Büro ebenso wie für noch spätabends verschickte Mails. Mitarbeiter, die dem nacheifern, sollten aber nicht vergessen, dass ihr Chef ein saftiges Gehalt einstreiche, mahnt Wehrle. Er könne Hilfskräfte für sein Privatleben organisieren und kämpfe nicht wie seine Mitarbeiter an zwei Fronten - Berufs- und Privatleben.

Chef nicht immer fähig

Zudem sei ein besonders arbeitsamer Chef noch lange kein besonders fähiger. Für den Straßenverkehr sage die Statistik, dass zwei Drittel aller Zusammenstöße von übermüdeten Fahrern verursacht würden. "Hat mal jemand nachgerechnet, welche Schäden entstehen, wenn ein müder Manager seinen Konzern an die Wand fährt?" Problematisch sei auch, dass oft ein bisschen Stolz mitschwinge, wenn über andauernde Überlastung und dutzendweise Überstunden geklagt werde - auch wenn darüber Familie, Freunde und Hobby ins Hintertreffen gerieten und so manche Ehe sich komplett auflöse.

Für seine Leser hat Wehrle Tipps parat, wie sich Absagen an Chefs oder Feierabendregeln am besten durchsetzen lassen. Es gehe nicht um effektivere Arbeitstechniken und Zeitjonglage, sondern ein klares "Nein" an richtiger Stelle. Wer zweifle, solle sich hinsetzen und einen Blick in die Zukunft werfen - ohne aktives Einschreiten werde sich an Überforderung und Hamsterrad bis zur Rente nichts ändern, mahnt Wehrle.

"Bin ich hier der Depp?" ist plakativ und überzeichnet, so manchem Leser dürfte es aber helfen, längst nötige Grenzen zu ziehen - unabhängig vom Arbeitsgebaren um ihn herum.

(dpa)
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