Bei häufigen Wadenkrämpfen hilft Magnesium wenig

Kommt ein Mann zum Apotheker: "Ich hätte gern hochdosiertes Magnesium." Der Apotheker nickt wissend, greift ins Regal, händigt dem Kunden einen Karton aus und ahnt, ohne genauer nachgefragt zu haben: Der Mann wird von Wadenkrämpfen gebeutelt.

Selbsttherapie hilft meistens Wadenkrämpfe kennen wir alle - von uns selbst, von Sportsendungen im Fernsehen, von vielen Erzählungen jener Leute, die regelmäßig nachts der Blitz in der Muskulatur des Unterschenkels trifft. Wie aus heiterem Himmel zieht sich dann ein Muskel schmerzhaft zusammen und verhärtet. Diese ziemlich unangenehme Erscheinung kann Sekunden oder Minuten lang andauern. Dagegen hilft als Selbsttherapie nur die sofortige Dehnung: Der Betroffene zieht dabei die Fußspitze Richtung Schädel, macht das Bein lang und drückt die Ferse durch. So lässt sich der Krampf fast immer auflösen, und die Schmerzen vergehen. Doch eine Irritation bleibt, meist in Form eines Phantomschmerzes, der dem Muskelkater gleicht.

Der sofortige Gedanke an Magnesium als Vademecum hat sich in der zivilisierten Welt als Reflex eingebürgert. Und in der Tat liegt er nahe, weil viele Leute notorisch zu wenig trinken und so ihren Elektrolyt-Haushalt in Unordnung bringen. Vor allem ältere Menschen verspüren ein oft deutlich reduziertes Durstgefühl. Jüngere trinken womöglich genug, treiben dann aber Sport und vergessen, dem Körper wieder ausreichend Mineralstoffe zuzuführen. Durch einen Mangel an Salzen kommt es aber zu Störungen in der Erregbarkeit der Muskelfasern.

Magnesium gegen den Stress im Bein? Besonders ältere Menschen leiden häufig unter Wadenkrämpfen. Kanadische Wissenschaftler haben sich diese Zielgruppe einmal genauer angeschaut und in einer Studie die Auswirkungen täglicher Magnesium-Infusionen auf die Häufigkeit von Krämpfen bei Altenheim-Bewohnern geprüft. Eine Hälfte der betagten Probanden bekam ein Magnesium-Präparat, die andere ein Scheinmedikament. In beiden Gruppen führten beide Behandlungen zu weniger Beinkrämpfen pro Woche. Was lernen wir? Eine vorbeugende Behandlung mit Magnesium erscheint in diesem Personenkreis wenig sinnvoll.

Das Kuriose ist, dass die Magnesiumwerte im Blut bei Menschen, die angeblich positiv auf Magnesium-Präparate ansprechen, nicht selten schon vorher in Ordnung waren. Trotzdem scheint das Magnesium in Tablettenform zu wirken. Warum? Bluttests spiegeln keineswegs den realen Status des Magnesiumhaushalts wider: Sie erfassen nur jene zwei Prozent der Gesamtmenge des Minerals, die im Blutserum oder in der Lymphflüssigkeit nachweisbar sind. Weitere 31 Prozent befinden sich in den Körperzellen; der überwiegende Teil wird in den Knochen gespeichert. Daraus darf man schließen, dass der heilende Effekt gar nicht von der sprudelnden Tablette, sondern von der Flüssigkeit kommt, in der die Tablette aufgelöst wird. In Wasser aus der Flasche und aus dem Kran sind die vermeintlich fehlenden Elektrolyte fast immer in ausreichender Menge enthalten.

Wenn Krämpfe chronisch werden Wenn nun aber die Wadenkrämpfe nicht von einer verrutschten Mineralstoff-Balance oder von überlasteten Muskeln herrühren? Dann sollte der Betroffene nachdenklich werden, denn häufige Krämpfe, die sich sogar chronisch entwickeln, können Indikatoren für andere Phänomene oder gar ernstzunehmende Krankheiten sein. Die sogenannten Crampi können beispielsweise auf einen übersteigerten Alkoholkonsum hinweisen, der den Flüssigkeitshaushalt nur scheinbar ins Lot bringt, in Wirklichkeit aber torpediert. Auch kann sich ein spezifischer Vitamin-Mangel hinter den Beschwerden verbergen.

Weitere Warnzeichen? Aufmerksam sollten die Betroffenen werden, wenn es weitere Warnzeichen des Körpers neben den Wadenkrämpfen gibt. Ist die Muskulatur ansonsten schlaffer als früher? Treten die Schmerzen auch außerhalb der Krampfattacken auf? Zeigen sich Krämpfe in anderen Körperregionen? Dann sollte der Betroffene zum Arzt, und der muss das Visier für mögliche Erkrankung deutlich weiter öffnen. Kribbelt es zudem in den Beinen, muss ein Neurologe konsultiert werden, denn es könnte sich um das Restless-Legs-Syndrom halten. Auch an eine Nervenschädigung, die bei der sogenannten Polyneuropathie auftritt, ist zu denken. Ein Blick über den Tellerrand führt ins Fach der Hormonkunde, genauer: in die Nebenschilddrüse. Die reguliert den Kalzium-Haushalt und damit auch die Erregbarkeit von Muskeln. Ist er in Unordnung, kann sich das auch in Wadenkrämpfen äußern.

Dass so gefürchtete Muskelleiden wie die Multiple Sklerose oder die unheilbare Amyotrophe Lateralsklerose ihren Anfang ausgerechnet in den Waden nehmen, ist unwahrscheinlich. Unter die Exoten fallen schließlich Krankheiten wie das Brody-Syndrom und die Myotonia congenita Thomsen, erbliche neurologische Krankheiten, die durch eine verzögerte Muskelentspannung und eine als Steifheit empfundene Neigung zur Kontraktion gekennzeichnet sind. Neurologische Spezialtests helfen jedenfalls bei der Diagnose.

Protokoll der Flüssigkeiten Wadenkrampf-Patienten sollten über mehrere Wochen ein genaues Protokoll ihrer Trinkmenge und Toilettengänge führen - viele werden schon nach wenigen Tagen sehen, dass sie deutlich zu wenig trinken. Oder dass sie zu viel Flüssigkeit verlieren - beim Sport, bei Durchfällen, oder durch Entwässerungsmedikamente. Wer hier klug gegensteuert, entkrampft die Muskeln und erhärtet die These: Wadenkrämpfe sind meistens harmlos.

(RP)
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