Bonn Der Hörsturz kann jeden treffen, nicht nur Manager

Bonn · Ein Hörsturz kommt ohne Vorwarnung. Innerhalb von Sekunden hören Betroffene nicht mehr oder nur noch schlecht, zudem können Tinnitus und Schwindel auftreten. Die Ursachen sind ungeklärt, Stress kann begünstigend wirken. Oft verschwinden die Probleme von selbst.

Noch schnell die Post sortieren, einen Anruf erledigen und die Fragen der letzten Kunden beantworten? Kurz vor Feierabend musste die Verkäuferin Paula Behnke (Name gändert) noch einiges erledigen. "Ich hatte mich selbst so unter Druck gesetzt, dass mir das alles zu viel wurde, und dann war da plötzlich dieser Druck im Ohr", erzählt die 45-Jährige. "Auf einmal hörte ich schlechter — als ob mein Ohr mit Watte verstopft war." Kleinste Geräusche hingegen nahm sie äußerst intensiv wahr: "Die Wasserspülung der Toilette und Gespräche in normaler Lautstärke waren unerträglich." Als es auch Tage später nicht besser wurde, ging sie zum Arzt. Diagnose: Hörsturz.

"Ein Hörsturz ist eine plötzliche, innerhalb von Sekunden oder Minuten auftretende Hörminderung im Innenohr, die in der Regel nur ein Ohr betrifft", sagt Professor Karl Hörmann von der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in Bonn. Dabei handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose. "Wenn die Ursache für den Hörverlust geklärt ist, zum Beispiel eine Mittelohrentzündung oder ein Knalltrauma, spricht man nicht von einem Hörsturz, sondern nur dann, wenn man keinen anderen Grund gefunden hat."

Bei einem Hörsturz sind die Sinneszellen des Innenohrs in ihrer Funktion gestört, Schallsignale über den Hörnerv an das Gehirn weiterzuleiten. "Hierfür gibt es eine große Anzahl theoretischer Erklärungsversuche. So werden im Bereich der Innenohren Sauerstoffmangel oder Stoffwechselstörungen vermutet ebenso wie Durchblutungsstörungen in engen Blutgefäßen", sagt Michael Deeg vom Deutschen Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte. "Aber definitive, eindeutige Belege für die Ursachen eines Hörsturzes gibt es nicht."

Hoher Blutdruck, hohe Cholesterin- und Fettwerte sowie Diabetes scheinen einen Hörsturz jedoch zu begünstigen, er ist also mitnichten, wie oft behauptet, eine reine Manager-Krankheit. "Sicherlich besteht auch ein Zusammenhang zwischen Stress und Hörsturz, aber das hängt von der Fähigkeit der einzelnen Menschen ab, mit Belastungssituationen umzugehen", erläutert Hörmann. "In der Regel ist der Hörsturz ein einmaliges Ereignis, aber bei wenig belastbaren Menschen kann sich das Innenohr zum Stressorgan entwickeln, so dass ihre Hörkurve bei größeren Anspannungen immer wieder absinkt."

Am häufigsten tritt ein Hörsturz um das 50. Lebensjahr auf, wobei die Hörminderung unterschiedlich stark ausfallen kann. "Es ist möglich, dass sie nur den Hoch-, Tief- oder Mitteltonbereich betrifft oder aber alle Frequenzen gleichzeitig und im schlimmsten Fall zur Ertaubung führt", erläutert Hörmann. Begleitende Symptome können Tinnitus und Schwindel sein. Manche Betroffene nehmen Töne, Geräusche und Stimmen verfremdet wahr oder hören sie doppelt, weil das eine Ohr plötzlich schlechter funktioniert als das andere.

Wer auch schwache Veränderungen beim Hören bemerkt, sollte schnell einen Hals-Nasen-Ohrenarzt aufsuchen. "Die Heilungschancen sind am größten, wenn man innerhalb der ersten drei Tage handelt", sagt Hörmann. Zwar kommen große Studien zu dem Ergebnis, dass bei etwa 40 Prozent aller Betroffenen der Hörsturz von selbst wieder abheilt. "Ohne Behandlung tritt bei weiteren 40 Prozent aber keine Besserung ein, und bei 20 Prozent verschlechtert sich der Hörzustand sogar noch."

Da die Ursachen unklar sind, gibt es auch keine erwiesenen Therapiemöglichkeiten. "Einen hohen Stellenwert hat heute die Behandlung mit Kortison, das zu den körpereigenen Hormonen zählt und theoretischen Überlegungen zufolge Entzündungen, aber auch stärkere Schwellungen im Innenohr bekämpfen soll", so Deeg. Kortison kann in Tabletten oder Infusionen gegeben werden.

"Der Arzt kann es auch in das Mittelohr einführen, indem er mit einer dünnen Kanüle durch das Trommelfell pikst." Dadurch gelangt das Kortison in höherer Konzentration vom Mittel- ins Innenohr. Mögliche Nebenwirkungen sind Magenprobleme, Bluthochdruck und erhöhte Blutzuckerwerte.

Infusionen, die den Blutfluss verbessern sollen, sind eine weitere Behandlungsmöglichkeit, die vor allem früher angewandt wurde. "Ihr Nutzen ist seit einiger Zeit umstritten", sagt Deeg. "Zudem kann ein wichtiges Basismittel, Hydroxyethylstärke, zu Juckreiz oder allergischen Reaktionen führen." Speziellere und aufwendigere Therapien wie die Apherese, eine Art Blutreinigung, oder die hyperbare Sauerstofftherapie kommen nur infrage, wenn die Behandlung mit Kortison oder Infusionen nicht langfristig anschlägt.

Liegt der Hörsturz vor allem am Stress oder bleiben Restsymptome wie Tinnitus und Schwerhörigkeit bestehen, könnte eine ausschließlich medizinische Behandlung nicht ausreichen. "Eine begleitende Verhaltens- und Psychotherapie und das Erlernen von Entspannungsübungen kann Betroffenen sehr weiterhelfen", sagt Bärbel Bonorden aus Goslar. Sie leitet eine Selbsthilfegruppe, die sich auch an Hörsturz-Betroffene richtet und in der Deutschen Tinnitus-Liga (DTL) organisiert ist.

(DPA-TMN)
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