Selbstoptimierung Die neue Vermessung des Menschen

Düsseldorf · Viele Menschen wollen schöner, schneller oder effizienter werden – Selbstoptimierung liegt im Trend. Für einige ist die Verbesserung des Ichs zu ihrem größten Projekt geworden.

 Leonardo da Vincis Zeichnung, die unter dem Namen Vitruvianischer Mensch bekannt ist, gilt bis heute als Sinnbild für Proportionalität und die Vermessung des Menschen.

Leonardo da Vincis Zeichnung, die unter dem Namen Vitruvianischer Mensch bekannt ist, gilt bis heute als Sinnbild für Proportionalität und die Vermessung des Menschen.

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Viele Menschen wollen schöner, schneller oder effizienter werden — Selbstoptimierung liegt im Trend. Für einige ist die Verbesserung des Ichs zu ihrem größten Projekt geworden.

Wenn Andreas Schreiber morgens aufwacht, schaut er als Erstes auf sein Smartphone. Mit Hilfe einer App, die Schlafbewegungen misst, verschafft er sich einen Überblick über die Qualität der Nachtruhe. Wie oft er unruhig geschlafen oder sich im Bett herumgedreht hat, zeichnet das Programm auf und weckt Schreiber zu einem Zeitpunkt, der für das Aufwachsen günstig sein soll. Dann stellt Schreiber sich auf die Waage, misst den Blutdruck, in unregelmäßigen Abständen auch den Blutzucker. Das macht der 43-Jährige, seitdem er vor einigen Jahren einen Schlaganfall erlitt. "Ich musste neu sprechen lernen. Damals hätte ich gerne so eine Hilfe gehabt." Mittlerweile betreibt Schreiber ein Unternehmen, das medizinische Apps entwickelt. So auch den Sprechbegleiter, der beim Sprachtraining hilft.

Im Büro hält er seinen Kaffekonsum fest, mehrmals am Tag fragt eine andere App nach seiner Stimmung. Ein lächelnder und ein schmollender Smiley stehen zur Auswahl, den klickt Schreiber dann je nach Gemütslage an. Im Auto lässt er die gefahrenen Kilometer aufzeichnen und den Benzinverbrauch festhalten. "Ich will die Zusammenhänge erkennen", sagt Schreiber. "Verbrauche ich zum Beispiel mehr Benzin, wenn ich vor dem Autofahren schlecht gelaunt bin, weil ich dann mehr Gas gebe?"

Mehr über sich selbst zu erfahren, über Reaktionen, Befindlichkeiten und Verhaltensmuster — das treibt viele Menschen an, die sich dem "Quantified Self" (quantifiziertes Selbst) verschrieben haben. Der Begriff wurde von den amerikanischen Journalisten Kevin Kelly und Gary Wolf geprägt und steht für eine neue Kultur des Vermessens. Mittlerweile ist daraus eine Bewegung geworden. In Deutschland gibt es acht offizielle Gruppen, die sich regelmäßig treffen. Manche sogenannte Self-Tracker möchten einfach ihren Leistungsstand überprüfen. Zum Beispiel: Wie viele Kilometer habe ich in diesem Jahr beim Joggen zurückgelegt? Andere dokumentieren minutiös, was und wieviel sie zu sich nehmen. Erkenne dich selbst 2.0.

Nichts kann jemanden stoppen, der auf dem Weg zu sich selbst ist, sagt der Slogan für eine Kette von Fitness-Studios. Dabei ist das Suchen nach dem eigenen Ich, nach Identität, eine alte Bewegung. Lange blieb es allerdings wenigen Denkern vorbehalten. Die Sozialpsychologin Bettina Hannover von der Freien Universität Berlin verweist darauf, dass historisch gesehen die Suche nach dem Ich für Menschen umso wichtiger geworden ist, je weniger ihr Schicksal durch Religion oder soziale Lage vorbestimmt war. "Das Selbst ist das Bild, das ein Mensch von sich hat. Es wird maßgeblich dadurch geprägt, wie andere Menschen mich sehen", sagt Hannover. Lange Zeit stellten sich Fragen wie Wie will ich leben? Was erfüllt mich? Wer bin ich? überhaupt nicht. Menschen waren eingebunden in feste Familienstrukturen, der älteste Sohn übernahm das Geschäft oder den Hof des Vaters. Solche zugeschriebenen Rollen konnten kaum überwunden werden. Wer es tat, dem drohte der Ausschluss aus der Familie oder der Gemeinschaft, was lebensgefährlich werden konnte. "Heute sind wir nicht mehr in diesem Maße darauf angewiesen, dass uns die eigene Familie unterstützt, zum Beispiel unsere Berufswünsche gutheißt", berichtet Hannover.

Jeder will heute herausfinden, wo die eigenen Stärken und Potenziale liegen, das zeigt schon die Flut von Bewertungsbögen, die bei Hotel- und Restaurantbesuchen oder nach Seminaren auszufüllen sind. Es spielt eine entscheidende Rolle, dass Menschen sich ihre Ziele selbst setzen und nicht von außen aufgedrückt bekommen, wie die Psychologin erforscht hat: "Menschen werden besonders dann zu Leistungen motiviert, wenn sie sich ein eigenes Ziel setzen. Denn ist das Ziel erreicht, hat man ein gutes Gefühl. Selbstoptimierung ist daher nichts anderes als das Setzen persönlicher Ziele und das Streben danach, diese zu erreichen."

Auch in der Arbeitswelt ist Selbstbestimmung ein Schlüsselwort geworden. "In den 70er- und 80er-Jahren gab es zunehmend Kritik an der Bürokratie. Das wurde als zu starr, zu unflexibel empfunden", sagt der Soziologe Ulrich Bröckling, der an der Universität Freiburg lehrt. "Wir haben uns in eine Wettbewerbsgesellschaft verwandelt." Das gilt nicht nur für Unternehmen, sondern auch für Bewerber auf dem Arbeitsmarkt. Flexibel soll der Wunschmitarbeiter sein, frei genug, um kreativ zu sein, individuell genug, um Nischen auszufüllen. Eine Fülle von Karriere-Ratgebern beschreibt, wie man zum perfekten Mitarbeiter wird. "Solche Ratgeber sagen oft: Sei ein Buchhalter deines eigenen Lebens und halte dich an die Regeln. Aber auch: Wage den Sprung ins Ungewisse, sei ein kreativer Chaot", sagt Bröckling. "Da werden Menschen mit Anforderungen konfrontiert, die sie nicht erfüllen können." Das führe zu einer Demütigung, weil man ständig an die eigenen Grenzen stoße, und zu einer Daueranspannung. "Ständig muss man in Bewegung bleiben, besser werden." Selbstvermarktung wird bei dieser Fülle von Anforderungen immer wichtiger. So lesen sich manche Lebensläufe wie die Bedienungsanleitung einer multifunktionalen Küchenmaschine: Kann alles. Mindestens 30 Jahre Garantie. "Und was machen Sie so beruflich?", fragt in einem Werbespot eine Businessfrau die Begleiterin ihres Kollegen. "Ich führe ein sehr erfolgreiches kleines Familienunternehmen", antwortet die Hausfrau und Mutter. Mit steigenden Standards wachsen auch die Anforderungen. Das kann zu Frust führen, spornt aber auch an. "Wer überhaupt keine Anforderungen mehr hat, bekommt auch irgendwann ein Selbstwertproblem", sagt Psychologie-Professorin Bettina Hannover. Viele Arbeitslose können davon ein Lied singen. "Es geht immer um das Ausmaß", sagt Hannover. Problematisch werde der Drang nach Selbstoptimierung, wenn vergessen wird, dass es auch noch erstrebenswerte Ziele gibt, die nicht auf das Ego bezogen sind, sondern zum Beispiel auf eine Kirchengemeinde oder einen Verein.

Andreas Schreiber nutzt in seinem Alltag die positiven Effekte von Wettbewerb und gegenseitiger Kontrolle. "Ich veröffentliche einige meiner Gesundheitsdaten auch bei Twitter", sagt der Mathematiker. "Wenn die Werte schlecht sind, ruft mich meine Mutter sofort an." Das Vergleichen mit den Daten anderer kann motivieren, selbst mehr an sich zu arbeiten, ähnlich wie im Sport. Da sind es auch die Laufzeiten, Sprunghöhen oder Torzahlen anderer, die den Ausschlag geben, zu sagen: Das kann ich noch besser.

Dass wir deshalb zu einer Gesellschaft von Einzelkämpfern werden, die ständig versuchen, sich gegen andere durchzusetzen, glaubt Ulrich Bröckling jedoch nicht. In vielen Unternehmen gebe es eine Aufwertung von Teams. Und auch der Drang, sich selbst als außergewöhnlich darzustellen, hat Grenzen. Bettina Hannover drückt es so aus: "Menschen streben nach einem Gleichgewicht zwischen Gleichheit mit anderen und Verschiedenheit von anderen. Wir wollen uns nicht allzu stark von anderen abheben, aber auch nicht in der Masse untergehen." Vielleicht ist die Suche nach dem Ich daher vor allem ein Balancieren. Einerseits anerkennen, was ist und die Ruhe bewahren, andererseits das eigene Potenzial voll ausschöpfen, auch wenn es Anstrengungen kostet. Ich will so bleiben, wie ich bin, warb einmal eine Diätmarke. Du darfst.

(RP)
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