Heimliche Essstörung Night-Eating-Syndrom — Essanfälle mitten in der Nacht

Hannover · Die einen stolpern nach dem Abendbrot auf dem Weg ins Bett noch am Kühlschrank vorbei, um sich ein ordentliches Nachthäppchen einzuverleiben. Die anderen schleichen nachts, wenn andere schlafen, in die Küche und futtern drauf los. Sie alle leiden unter der recht unnbekannten Esstörung "Night-Eating-Syndrom".

Night-Eating-Syndrom: Was Sie über Essanfälle in der Nacht wissen müssen
Foto: ShutterstOCK:COM/ Stokkete

Joghurt, ein Stück Käse oder andere Happen verschwinden mitten in der Nacht im Mund - wirklicher Hunger ist es jedoch nicht, der die Betroffenen wie auf eine Schiene Richtung Kühlschrank setzt. Es ist die Lust. Die Gier auf etwas Essbares. Dafür stehen sie aus dem Bett auf und pilgern zum Mekka der schnellen Gaumenfreuden. "Es sind nicht immer große Mengen, die die Betroffenen nachts vertilgen", sagt Prof. Martina de Zwaan. Sie ist Leiterin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover und gilt als Expertin für NES, also für das "Night-Eating-Syndrom".

Viel konnten die Forscher über das seltsame Ess-Syndrom noch nicht herausfinden. Doch weiß man sicher, dass es in zwei unterschiedlichen Ausprägungen vorkommen kann. Während die einen mitten in der Nacht ihren Schlaf unterbrechen und in die Küche torkeln, um einen kleinen Happen zu sich zu nehmen, haben andere Betroffene zuvor noch kein Auge geschlossen. "Sie essen zwischen dem Abendbrot und dem zu Bett gehen", sagt de Zwaan. Den Kühlschrank zu plündern ist weit mehr als eine dumme Angewohnheit. Typisch ist bei den Betroffenen, die den abendlichen Umweg durch die Küche nehmen, dass sie dort eine Nahrungsmenge von mindestens einem Viertel ihres Tagesbedarfs zu sich nehmen.

Das bleibt nicht folgenlos. Am Morgen danach hält sich der Hunger in Grenzen. Die Nachtesser verschmähen das Frühstück ganz oder essen nur einen hastigen Happen. Schuldgefühle plagen sie, denn Häppchentour laufen sie in vollem Bewusstsein ab. Das unterscheidet sie von Menschen, die im Zuge von Schlafanomalien wie dem Schlafwandeln unbewusst essen.

Das regelmäßige nächtliche Aufstehen fordert seinen Tribut: Die Betroffenen sind unausgeschlafen und müde. Sie entwickeln oft Einschlafstörungen und leiden laut de Zwaan schon abends unter schlechter Stimmung, die bis ins depressive hinein abfallen kann. Übergewichtige zeigen eher NES als Normalgewichtige. Auch fällt den Forschern auf, dass Menschen mit ärztlich verordneter Diät ein höheres Risiko für diese Essstörung tragen. Die Hintergründe aber sind noch weitestgehend unklar.

Zwar wurde das Night-Eating-Syndrom schon im Jahr 1955 erstmals beschrieben und damit rund 20 Jahre früher als die Essstörung Bulimia nervosa, im Volksmund als Bulimie bekannt. Doch bleibt das Syndrom trotzdem im Schatten der bekannteren Ess-Brechsucht. Selbst über die Zahl der Betroffenen wagen die Forscher nur vorsichtige Aussagen. Während manche von bis zu 16 Prozent ausgehen, formuliert de Zwaan es vorsichtiger: "Vielleicht ein bis 1,5 Prozent der Bevölkerung."

Solch dünne Erkenntnisdecke bringt die Forscher in einer Zeit zunehmender Ess- und Verhaltensstörungen in die Not, händeringend nach weiteren Anhaltspunkten rund um die Störung zu suchen. Denn nur dann könnte man gezielte Therapieansätze entwickeln, die derzeit noch weitestgehend fehlen.

Prof. Martina des Zwaan, weiß genau, was sie gerne wissenschaftlich untersuchen würde: "Wir würden gerne die Wohnungen der Probanden mit Sensoren ausstatten. So lässt sich nachvollziehen, wann sie genau essen gehen, welche Kreise sie in ihren Räumen ziehen und wie oft sie den Kühlschrank öffnen und schließen", sagt sie. Aus solchem Wissen lassen sich Muster und neue Erkenntnisse ableiten, die nicht nur den aktuell Betroffenen helfen können, sondern auch zu neuen Therapieoptionen führen könnten. Doch in Deutschland fehlen für solche Erkenntnisse die Forschungsgelder.

So tappen Psychosomatiker, Psychiater, Psychologen und auch Schlafforscher weiter auf dem dünnen Grad der Kategorisierung verschiedener Krankheitsbilder. Bulimische Personen verzehren ebenso wie teilweise auch Night-Eater große Nahrungsmengen auf einmal. Sie aber kompensieren die ausufernde Fressattacke durch Sport oder selbst ausgelöstes Erbrechen. Im Unterschied zum Binge-Eating, das tagsüber ebenso stattfindet, wie nachts, fallen die Fressattacken beim NES in die Abendstunden. Das lässt die Mediziner zu der Hypothese kommen, die Essstörung sei mit einer Art Biorhythmusstörung verknüpft. "Im Gegensatz zum Tag-Wach-Rhythmus ist der Essrhythmus gestört, also zeitlich nach hinten verschoben", sagt de Zwaan. Ob es hormonelle Ursachen oder ganz andere Gründe sind, die zu diesem verschobenen Ablauf führen, sind bislang nur Mutmaßungen.

Entsprechend sind die therapeutischen Möglichkeiten begrenzt. Neben einer Psychotherapie und einem Verhaltenstraining versuchen Therapeuten den Betroffenen mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern aus dem Teufelskreis heraus zu helfen. Solche Antidepressiva werden auch bei Zwangsstörungen oder Phobien erfolgreich eingesetzt. In einigen kleinen Studien versuchte man das Problem mit der Gabe von Melatoninabkömmlingen in den Griff zu bekommen. Melatonin ist ein Hormon, das beim gesunden Menschen den Schlaf-Wach-Rhythmus synchronisiert und schlaffördernd wirkt.

Hilfesuchenden rät Expertin de Zwaan zu Einrichtungen, die sich auf Essstörungen spezialisiert haben. Helfen können meist keine Schlafforscher, wohl aber stellen sie manchmal als Nebenbefund eine solche Störung fest. Auch niedergelassene Psychologen oder Psychosomatiker können Anlaufstellen sein, die mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen, dem Schulen von Selbstbeobachtung und strukturierten Maßnahmen helfen können. Allein das Absperren des Kühlschranks ist dabei nach Auffassung der NES-Expertin keine Lösung, doch eine hilfreiche Maßnahme in einem Paket anderer Veränderungen. Dazu kann das Einführen eines ausgewogenen Ernährungsstils mit fünf Mahlzeiten täglich helfen oder Entspannungstechniken oder eine Lichttherapie.

(wat)
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