Konsum in Deutschland Das Mineralwasser-Paradox

Düsseldorf · Der Mineralwasser-Markt hat sich verändert. Wasser mit wenig Kohlensäure hat den Sprudel von der Spitze verdrängt. Am stärksten aber wächst der Anteil von stillem Wasser. Wie konnte das passieren? Und vor allem: Warum trinkt der Deutsche nicht einfach Leitungswasser?

Warum trinken wir so viel Mineralwasser?
Foto: Christoph Schmidt

Wer keinen Hunger mehr hat, ist satt. Wer keinen Durst mehr hat, ist... ja, was eigentlich? 1999 wollte die Dudenredaktion diese Lücke in der deutschen Sprache schließen und rief dazu auf, ein Wort für "nicht mehr durstig" zu finden. Zwar gewann ein Schüler aus Ludwigsburg mit seinem Vorschlag "sitt", doch durchgesetzt hat sich dieses Kunstwort nicht.

Das könnte auch damit zu tun haben, dass der Deutsche immer Durst zu haben scheint.

Jedenfalls trinkt und trinkt er. Gegen den Durst am liebsten Mineralwasser, 143,5 Liter pro Kopf. Bis in die 90er hinein war damit vor allem Mineralwasser mit viel Kohlensäure gemeint, doch die Popularität der Sorten hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Seit 2011 ist Wasser mit reduzierter Kohlensäure ("medium") der Marktführer. Heute hat Medium-Wasser in Deutschland einen Marktanteil von 41,4 Prozent, Sprudel nur noch 38,3 Prozent. Auf Platz drei liegt mit deutlichem Abstand stilles Wasser mit 19,5 Prozent. Dessen Anteil hat sich in den vergangenen zehn Jahren allerdings verdoppelt.

Überall trinken wir Wasser

Der Trend ist klar: Die Deutschen haben es nicht mehr so mit Kohlensäure. Doch warum bloß? Der vermutlich wichtigste Grund lässt sich an den Absatzzahlen der vergangenen 40 Jahre ablesen: Die Deutschen trinken immer mehr Mineralwasser. 1970 waren es noch 12,5 Liter pro Kopf, heute sind es mehr als zehnmal so viel. Mineralwasser ist kein Luxusprodukt mehr, keine Kur-Anwendung, auch kein bloßer Durstlöscher, sondern etwas, das wir ständig zu uns nehmen. Bei der Arbeit, während des Sports, beim Essen, vor dem Fernseher, in der Bahn.

Und wer mehr trinkt, der möchte sich nicht unbedingt bei jedem Schluck die volle Dosis Kohlensäure verpassen. Zumal unsere Ernährung dazu führt, dass unser Magen ohnehin schon gereizt ist. "Der Erfolg von kohlensäurearmen beziehungsweise -freiem Mineralwasser lässt sich auch dadurch erklären, dass immer mehr Menschen aufgrund ungesunder Ernährung zu einem empfindlichen Magen neigen und daher die Bekömmlichkeit schätzen", erklärt die Bonner Ernährungsberaterin Marion Wüstefeld-Würfel. Zumal unsere Gesellschaft immer älter wird und ältere Leute auch wegen der Magenprobleme bevorzugt zu Medium-Sorten greifen.

Doch warum trinken die Deutschen mittlerweile überhaupt so viel abgefülltes Wasser?

Die Mineralwasser-Produzenten haben nicht nur vom steigenden Wohlstand nach dem Zweiten Weltkrieg profitiert, von der Luxusfress-Welle und der Gesundheitswelle, sondern auch von zwei Eingriffen in den Markt. Das erklärt Arno Dopychai, Mineralwasserexperte beim "Verband Deutscher Mineralbrunnen". In den 80ern regelte eine europaweite Richtlinie die Anforderungen ans Mineralwasser neu. Zuvor hatte Deutschland eigene, strengere Vorschriften. Mit den neuen Richtlinien durfte nun auch Wasser als Mineralwasser verkauft werden, das sich früher nicht so nennen durfte — weil der Mineralgehalt zu niedrig war. Darunter waren auch viele stille Wässer. Damit war das Angebot an Mineralwassern plötzlich deutlich größer.

Der zweite große Schub sorgte dafür, dass der Verbrauch von 2000 bis 2003 um 30 Liter pro Kopf stieg. Verantwortlich war die Einführung der PET-Flasche, vor allem in der Einweg-Variante. Diese war bis 2003 pfandfrei, was dazu führte, dass auch Discounter Mineralwasser ins Programm nahmen. Vorher war ihnen das wegen des Pfandsystems zu aufwändig gewesen. Mineralwasser war also auch dort verfügbar, wo die Leute sowieso zum Einkaufen hinfuhren. Außerdem war die Flasche leichter, größer und stabiler. Die Folge: steigender Konsum.

Kohlensäureland Deutschland

Doch der Trend zu weniger Kohlensäure hat noch andere Gründe. Eigentlich ist Deutschland in Sachen Kohlensäure sowieso eine Ausnahme. "Deutschland nimmt eine Sonderstellung ein, weil es durch seine Geologie über sehr viele kohlensäurehaltige Mineralwasserquellen verfügt", sagt Marcus Macioszek, Marketing-Chef von Gerolsteiner. Als die Deutschen dann mit steigendem Wohlstand nach Italien, Frankreich und Spanien fuhren, lernten sie dort auch Mineralwasser mit wenig oder keiner Kohlensäure kennen. Und so wie die Pizza wollten sie auch die ausländischen Mineralwasser zuhause konsumieren.

Bis deutsche Anbieter den Trend zu stillem Wasser erkannten und gegen Volvic, Evian und Vittel antraten, dauerte es allerdings sehr lange. Erst 2008 fühlte sich Gerolsteiner gedrängt, sein Medium-Wasser nicht mehr unter dem Namen "Stille Quelle" zu führen, weil das mittlerweile nicht mehr für kohlensäurearm, sondern für kohlensäurefrei stand. Ende der 90er war Gerolsteiner zunächst mit der Einführung eines kohlensäurefreien Wassers gescheitert. Weil es den Leuten nicht schmeckte und weil der Name "Excelsis" die Käufer nicht an stilles Wasser denken ließ. Das Unternehmen wechselte die Quelle und den Namen. Heute macht "Gerolsteiner naturell" 13 Prozent beim Absatz von Gerolsteiner Mineralwässern aus.

Doch warum bloß trinken die Menschen statt stillem Wasser nicht einfach Leitungswasser?

Am Mineraliengehalt kann es kaum liegen. Um Mineralien aus dem Gestein zu lösen und im Wasser gelöst zu halten, braucht es Kohlensäure. Deshalb hat stilles Wasser tendenziell weniger Calcium und Magnesium. Je nach Region kann Trinkwasser da locker mithalten. Deshalb werben die Anbieter von stillem Wasser mit einem anderen Punkt: "Wir beobachten in Deutschland seit einigen Jahren eine große Entwicklung des Trends ,Natürlichkeit', sagt Frederich Haas, Marketingchef von Danone Waters Deutschland, zu dem auch Evian und Volvic gehören. "Dieses Thema spielt in unserer Kommunikation selbstverständlich auch eine große Rolle." Einfacher ausgedrückt: Leitungswasser hat keinen sonderlich guten Ruf, und das obwohl es stärker kontrolliert wird als Mineralwasser. Doch im Gegensatz zu Mineralwasser, an dem wenig verändert wird, ist Leitungswasser in der Tat kein natürliches Produkt, sondern aufbereitet. Gesund ist es trotzdem. Und der Mineralienbedarf lässt sich auch durch feste Nahrung decken.

Doch wer sich so richtig sitt trinken will, wird das auch in Zukunft überwiegend mit Mineralwasser tun.

(seda)
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