Kassenpatienten müssen länger warten

Kassenpatienten müssen häufiger auf einen Termin warten oder werden anders als Privatpatienten behandelt - ein Arzt erklärt, warum er Unterschiede macht.

Wer zum Arzt geht, rechnet mit vielen unangenehmen Dingen, aber nicht mit diesem Satz: "Sie hätten diesen Termin heute gar nicht bekommen dürfen, denn als Kassenpatient haben Sie Ihr Kontingent in diesem Quartal bereits ausgeschöpft." Man könnte nun meinen, ich wäre in letzter Zeit schon häufiger in dieser Arztpraxis gewesen. Dem ist aber nicht so. Einen einzigen Termin zu einem ganz anderen Anliegen habe ich im ersten Quartal 2017 bei dem Düsseldorfer Orthopäden in Anspruch genommen. Trotzdem, sagt Paul Kremer (Name von der Redaktion geändert), wäre das in seiner Praxis so üblich.

Dass sich ein Facharzt entscheidet, bei einem Kassenpatienten nur ein einziges gesundheitliches Problem im Quartal zu behandeln, gehört zu den zahlreichen Unterschieden, die sich zwischen Kassen- und Privatversicherten auftun. Laut einer Untersuchung der Grünen müssen Kassenpatienten in NRW zudem durchschnittlich 27 Tage länger auf einen Termin warten als Privatversicherte. Hinzu kommen die Unterschiede bei der Verschreibung von Heilmitteln: Kassenpatienten bekommen weniger und müssen etwa bei der Physiotherapie noch einen eigenen Beitrag leisten.

Warum Ärzte Unterschiede zwischen ihren Patienten machen

"Das Problem ist, dass wir niedergelassenen Ärzte überhaupt keinen Handlungsspielraum haben", sagt Kremer, der seinen echten Namen nicht nennen will, weil er sonst Probleme mit seiner Standesvertretung bekommen könnte. "Im zweiten Quartal 2017 beispielsweise bekomme ich für einen Kassenpatienten 21,77 Euro. Egal, wie oft er in diesen drei Monaten zu mir kommt. Das ist finanziell ein echtes Problem."

Kommt ein Unfallpatient und benötigt eine Röntgenaufnahme des Knies und des Handgelenks, bekommt Kremer 12,50 Euro - ebenfalls als Pauschale für alle Röntgenaufnahmen, die von dem Patienten im Laufe seiner Behandlung gemacht werden. "Diese Pauschale rechnet sich aber nicht, denn alleine die Anschaffung des Geräts ist sehr teuer. Hinzu kommen Praxisräume, Personal und die nötigen Materialien", sagt der Orthopäde.

Regelleistungsvolumen heißen die Pauschalen, die von den Kassenärztlichen Vereinigungen festgelegt werden. Sie wurden 2009 im Rahmen der Gesetzesreform für die Vergütung von Vertragsärzten eingeführt. Wie hoch sie sind, hängt von der Summe ab, die die Krankenkassen den 17 Kassenärztlichen Vereinigungen in Deutschland pro Quartal zukommen lassen.

Wo beispielsweise weniger Arbeitslose leben, haben die Kassen entsprechend auch höhere Einnahmen. Das höchste Honorar bekommen Ärzte deshalb meist in Baden-Württemberg und Bayern. Weil NRW zwei Kassenärztliche Vereinigungen hat (Nordrhein und Westfalen-Lippe), entstehen hier zusätzlich regionale Unterschiede. So erhält ein Orthopäde in Dortmund nicht 21,77 Euro, sondern 29,43 Euro pro Patient im Alter von sechs bis 59 Jahren pro Quartal. Ein Chirurg verdient im Gebiet Nordrhein 22,01 Euro pro Patient und in Westfalen-Lippe 26,30 Euro, ein Hausarzt hier 40,67, dort 18,69 Euro.

Ähnliche Quartalspauschalen gibt es für Leistungen wie EKG, Röntgenaufnahmen, Impfungen und für Heilmittel wie Physiotherapie. Kommt der Arzt über sein Quartalsbudget, wird die Leistung niedriger vergütet. Für ein Röntgenbild würde er dann nicht einmal mehr 12,50 Euro bekommen.

"Für mich bedeutet das, dass ich, um wirtschaftlich zu arbeiten, bei jedem Patienten überlegen muss, welche Maßnahmen ich ihm verordne. Denn es könnte sein, dass im selben Quartal noch jemand zu mir kommt, der die Leistungen dringender braucht", sagt Kremer. Als Erstes bekommen diese Politik die jüngeren Patienten zu spüren, dann beginnt das große Abwägen. "Durch das viele Sitzen beispielsweise habe ich immer mehr Patienten mit Problemen an der Halswirbelsäule. Ich kann aber nicht jedem etwas dafür verschreiben, weil das mein Budget sprengen würde", sagt Kremer. Manchmal verdirbt ihm diese Situation die Lust an seinem Job.

Aber nicht nur Ärzte sehen ein Problem in diesem System. Auch die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein räumt ein: "Es entsteht hier eine große Lücke, weil der Behandlungsbedarf in Deutschland steigt, aber die Summe, die für die Behandlungen zur Verfügung steht, endlich ist", sagt ein Sprecher.

Am Ende des Quartals müssen Kassenpatienten warten

Die Folge: Immer mehr Ärzte zweifeln an der Wirtschaftlichkeit ihrer Praxis und lassen sich Strategien einfallen, um das Defizit auszugleichen. Nur ein Anliegen pro Kassenpatient in drei Monaten zu bearbeiten, gehört ebenso dazu wie das Schließen der Praxis zum Ende des Quartals. "Wir machen das nicht, aber das gibt es häufiger, dass Ärzte die letzten Wochen im Quartal Urlaub nehmen, um keine Patienten mehr behandeln zu müssen", sagt Orthopäde Kremer. Außerdem bekommen Kassenpatienten oftmals erst nach langer Wartezeit einen Termin. Dann nämlich, wenn der Arzt wieder an ihnen verdienen kann. "Wir müssen 20 Wochenstunden für Kassenpatienten vorhalten und ein paar Stunden für Notfälle", sagt Kremer. "Die restliche Zeit können wir dann eben auch Privatpatienten anbieten, und das ist für uns überlebenswichtig."

Rechnungen für Privatpatienten fallen deutlich höher aus

450 Arztpraxen in NRW haben die Grünen für eine Untersuchung zum Thema Wartezeiten angerufen, einmal als Kassenpatient und einmal als Privatpatient. Demnach wurden zwar in rund 30 Prozent der Fälle Kassen- und Privatversicherte gleich oder fast gleich behandelt, in anderen Fällen war die Diskrepanz dafür umso größer: In Bielefeld etwa wartet ein gesetzlich Versicherter demzufolge durschnittlich 61 Tage, ein privat Versicherter hingegen nur 18 Tage. In Bonn wartet ein gesetzliche Versicherter 44 Tage und ein privat Versicherter acht Tage. In Wuppertal stehen 41 Tage Wartezeit elf Tagen gegenüber. In Köln warten die einen 26 Tage und die anderen fünf Tage, und in Düsseldorf sind es der Umfrage zufolge bei gesetzlich Versicherten 23 Tage und bei privat Versicherten sieben Tage. Denn die Rechnungen für Privatpatienten fallen deutlich höher aus als jene für Kassenpatienten.

"Wir haben festgestellt, dass die Rechnungen durchschnittlich um das 2,3-fache höher liegen als die der gesetzlich Versicherten", sagt Anke Walendzik, Gesundheitsökonomin vom Essener Forschungsinstitut für Medizinmanagement. Bei Privatpatienten werden alle Maßnahmen als Einzelleistungen verbucht, der Arzt kann also jedes EKG und jede Spritze einzeln abrechnen. Pro Röntgenbild von Handgelenk und Fußknöchel bekommt ein Orthopäde deshalb laut Gebührenordnung von einem Privatpatienten 46,16 Euro. "Das ist für den Arzt natürlich gut, gleichzeitig kann dieser Anreiz aber auch dazu führen, dass Ärzte zu viele Maßnahmen verschreiben", sagt Walendzik.

(ham)
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