Statt Wachkoma nur bewegungsunfähig 40 Prozent Fehldiagnosen bei Wachkomapatienten

Burgau · Kein seltener Anblick ist für die Notfallmediziner der von Patienten, die wie Rennfahrer Michael Schumacher ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten haben. Einige von ihnen öffnen nach einiger Zeit wieder die Augen, sind jedoch im Wachkoma. Manche aber werden für Wachkomapatienten gehalten, obwohl sie bei Bewusstsein sind, vermuten Neurophysiologen. Denn entgegen den Erwartungen kann man in Kontakt zu ihnen treten.

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Foto: shutterstock/ Tyler Olson

35.000 Menschen landen jährlich in Deutschland schwerstverletzt auf einer Intensivstation. Eine grausame Vorstellung, nach einem schweren Unfall mit Kopfverletzung nach einiger Zeit wach zu werden und sich nicht mehr bewegen zu können. Noch furchtbarer aber ist die Vorstellung, es der Außenwelt nicht mitteilen zu können.

Tatsächlich kann es sogar sein, dass Ärzte und Pflegekräfte Wachkomapatienten behandeln, die gar keine sind. Denn fast jeder Fünfte hat ein verborgenes Bewusstsein. Das ans Licht zu bringen und wenn auch auf ungewöhnliche Weise mit den Betroffenen zu kommunizieren, sehen spezialisierte Neurologen in Rehacentren wie an der Uniklinik München, in Tübingen oder der Charité Berlin als ihre Aufgabe.

In Deutschland werden geschätzt 5000 Menschen als Wachkoma-Patienten behandelt. "Tatsächlich liegt aber bei rund 40 Prozent eine Fehldiagnose vor. Das zeigen mehrere Untersuchungen", sagt Dr. Andreas Bender, Chefarzt am Therapiezentrum Burgau.

In Wirklichkeit leiden sie zum Beispiel unter dem so genannten Locked-in-Syndrom, das mit einer völligen Bewegungsunfähigkeit bei vollem Bewusstsein einhergeht. Sie können jedoch nicht auf ihre Situation aufmerksam machen. Andere haben wieder ein Minimalbewusstsein entwickelt, ohne dass es jemand bemerkt hätte.

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Wie Ärzte versuchen, das Bewusstsein aufzudecken

Die Sache ist kompliziert, denn natürlich werden auf den neurologischen Stationen und im intensivmedizinischen Bereich genaue Untersuchungen angestellt, die klären sollen, worunter die regungslosen Patienten leiden und was ihren Zustand verursacht. "Dazu untersucht man Wachkoma-Patienten sehr gründlich und achtet zum Beispiel darauf, ob sie Aufforderungen folgen können, einem vorgehaltenen Finger mit den Augen zu folgen oder ihre Zunge herauszustrecken", erläutert der Mediziner.

Auch gezielte Bewegungen der eigenen Finger können ein Hinweis auf das wieder erwachte Bewusstsein sein. Das, was die Untersuchung so schwer macht ist allerdings die Tatsache, dass der Untersucher vorher nicht weiß, ob ein Patient rein nach der Bewusstseinsebene, auf der er sich befindet, dazu in der Lage ist.

Ausschließen lässt sich also nicht, dass Patienten mit Bewusstsein für Komapatienten gehalten werden: "Selbst wenn man klinisch nichts falsch macht, übersieht man zehn bis zwanzig Prozent der Patienten, die eben nicht mehr im Wachkoma mehr sind", so der spezialisierte Neurophysiologe.

Insgesamt ist man darum vorsichtiger geworden, die Diagnose "Wachkoma" — auch als "Syndrom reaktionsloser Wachheit" bezeichnet — zu stellen. Während noch vor einigen Jahren Mediziner davon ausgingen, dass ein solcher Zustand nach einiger Zeit unveränderbar ist, ist man sich diesbezüglich heute nicht mehr so sicher. Selbst nach Jahren können Patienten wieder kontaktfähig werden.

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Foto: dapd, Nathan Bilow

Was der Arzt nicht sieht, kann der Pfleger bemerken

Das lässt die Möglichkeit zu, dass sie plötzlich und unbemerkt ihr Bewusstsein zurückerlangen. Das macht es noch schwieriger ein rein reflexhaftes Verhalten von bewusstem zu unterscheiden. Wachkomapatienten können beispielsweise den Kopf drehen, gähnen, schlafen oder unverständliche Laute produzieren.

Solche Indizien, die für die Angehörigen Anlass zur Hoffnung sind, werden von Medizinern darauf hin analysiert, ob sie reproduzierbar sind. Treten sie immer in gleichen Situationen wieder auf oder haben sie sogar Mitteilungscharakter?

Hinzu kommt das Problem, dass Wachkomapatienten meist nicht permanent in derselben Verfassung sind. "Manche Personen sind morgens zum Beispiel wacher als mittags. Das kann dazu führen, dass sie während der täglichen Pflege vielleicht Reaktionen zeigen, die der Arzt bei der Visite nicht sehen kann", sagt Andreas Bender.

Er hält es darum für dringend notwendig, dass Pflegekräfte und Therapeuten bereits in ihrer Ausbildung diesbezüglich intensiv geschult werden. Sie können durch aufmerksames Beobachten vielleicht für solche Menschen der Schlüssel zurück zur Kommunikation sein.

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Foto: dpa, Oliver Killig

Neue Verfahren — Hirnkurven durch Vorstellung

Daneben bieten Diagnoseverfahren wie die funktionelle Kernspintomografie einen weiteren Anknüpfungspunkt, um mit den Betroffenen wieder zu kommunizieren. Dazu bedient man sich bestimmter Verfahren, Bilder vom Gehirn zu fertigen und gleichzeitig die Hirndurchblutung zu messen, wenn die Betroffenen mit Kopfhörern versehen Aufgaben gestellt bekommen.

So werden sie gebeten, sich vorzustellen virtuell Tennis zu spielen. Die Forscher stellten daraufhin bei einigen ihrer Patienten fest, dass bei ihnen die gleichen Hirnareale aktiv sind wie bei gesunden Probanden. In anderen Studien zeigten Patienten, dass sie bei dem Aufeinanderfolgen verschiedener Worte mehrmals ihre Aufmerksamkeit klar auf die Wörter "ja" oder "nein" richten konnten.

Ähnlich diesen Ergebnissen konnte auch Neurologe Andreas Bender nachweisen, dass einige Menschen im Wachkoma mit gezielten Veränderungen ihrer Gehirnströme auf Aufgaben reagierten. Sie sollten sich so zum Beispiel vorstellen, eine Faust zu ballen. Diesen Versuch kann man mithilfe einer Hirnstrommessung nachweisen.

Solche Verfahren der Kontaktaufnahme werden allerdings derzeit — wie auch im mit dem Uniklinikum München kooperierenden Klinik in Burgau — bislang lediglich als Möglichkeit erforscht und stehen somit nicht grundsätzlich in den neurologischen Frührehabilitationskliniken zur Verfügung.

Das wünscht sich der Neurologe anders: "Engere Kooperationen zwischen Universitäts- und Rehabilitationskliniken wären wünschenswert. Wir könnten dann auch in der Therapie andere Fortschritte machen", so der Mediziner und stellt sich mehr aktivierende Therapien vor, mit der man versucht, Betroffene aus ihrem Eingesperrtsein im eigenen Körper herauszuholen.

Für notwendig hält er auch eine angepasste Therapie im häuslichen Umfeld, auch wenn sie nicht mehr so intensiv sein kann wie in einer Rehaklinik. "Es ist wichtig, dass diese Patienten nicht vergessen werden."

(wat)
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