Nur eine Sache des Vertrauens? Angst vor unnötigen Operationen in Deutschland

Heidelberg/Düsseldorf · Nirgends sonst wird im internationalen Vergleich so viel operiert wie in Deutschland, sagt die OECD. Müssen Patienten auf der Hut sein vor unnötigen Eingriffen?

 In den letzten fünf Jahren hat sich die Zahl der Wirbelsäulen-OPs nahezu verdoppelt.

In den letzten fünf Jahren hat sich die Zahl der Wirbelsäulen-OPs nahezu verdoppelt.

Foto: AOK

Die Sache ist verzwickt: In Deutschland werden fast doppelt so viele Menschen an der Hüfte operiert als im internationalen Vergleich, so bescheinigt es ein Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Neben dem Einsetzen von künstlichen Hüften ist die Bundesrepublik demnach zudem federführend bei der stationären Therapie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Laut der AOK haben sich Eingriffe am Rücken in fünf Jahren verdoppelt.

Die Zahl der Operationen steigt seit Jahren kontinuierlich weiter an, sagen Krankenkassen und OECD. Auch die Zahl der Krankenhausaufenthalte klettert nach oben. 240 Klinikaufenthalte kann man pro 1000 Einwohner zählen. Durchschnittlich sind es in den OECD-Ländern 155. "In Deutschland wird zu viel operiert und das häufig mit mangelhaften Ergebnissen. Gleichzeitig fließen zu wenig Mittel in die Modernisierung der Kliniken", sagt Uwe Deh, geschäftsführender Vorstand bei der AOK.

"Zahl der Knie- und Hüft-OPs sinkt"

Die Kassen klagen: Schon vor drei Jahren wies die Barmer GEK auf einen Anstieg von Hüft- und Kniegelenkersatzoperationen hin. Anders sieht das der Heidelberger Knie- und Fußspezialist Prof. Dr. Hajo Thermann. "Die Politiker wollen mit solchen Aussagen Druck machen. Die Zahlen für Knie- und Hüft-OPs sind seit zwei Jahren rückläufig", erklärt er gegenüber unserer Redaktion. Allein bei den Wirbelsäulen-Eingriffen sei da anders. Das bestätigt die AOK: Innerhalb von fünf Jahren hat sich die Zahl der Eingriffe an der Wirbelsäule verdoppelt.

Kritiker sehen in den Zahlen von Krankenkassen und OECD den Beleg dafür, dass ökonomische Gründe in den mauen Kliniken zu einer solch hohen Operationsdichte führen. Es steht die Unterstellung im Raum, Kliniken sanierten sich am Patienten gesund. "Patienten können sich nicht mehr sicher sein, nur aus medizinischen Gründen operiert zu werden", sagt Vorstand Uwe Deh. So kommt die Deutsche Gesellschaft Orthopädische Chirurgie (DGOOC) kommt nach einer Auswertung in Zusammenarbeit mit der AOK zu dem Ergebnis, dass die Anzahl der Hüft- und Kniegelenksoperationen genau in den Jahren zwischen 2003 und 2005 deutlich anstiegen.

Seit 2003 ist im Gesundheitswesen ein neues Abrechnungssystem eingeführt. Kliniken erhalten seitdem pro Patient — unabhängig von der Verweildauer und Nebenerkrankungen sogenannte Fallpauschalen. Bezahlt wird von der Krankenkasse also nicht der tatsächliche Aufwand für den einzelnen Patienten, sondern lediglich das, was durchschnittlich eine Behandlung beispielsweise am Blinddarm kostet. Mit Hüft- oder Knie-Operationen können Kliniken im Schnitt hohe Fallpauschalen erzielen. Spezialisierung bei mittlerer Verweildauer der Patienten bringt die Klinik ökonomisch weiter.

Warum die Länder schwer zu vergleichen sind

Was allerdings unbeachtet im OECD-Vergleich blieb, sind die unterschiedlichen Gesundheitssysteme mit denen man in den 34 Mitgliedsländern zu tun hat: "Wenn man in England 20 Jahre auf eine Knie-Prothese wartet, dann zeigt das die unterschiedlichen Möglichkeiten in den Ländern", wendet der Ärztliche Direktor der ATOS-Klinik in Heidelberg ein. "Wir haben in Deutschland eine Patienten-Versorgung auf Top-Niveau und das ist dem Wettbewerb geschuldet." Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft kritisiert diese verschobene Interpretationsweise: Unter den OECD-Ländern seien osteuropäische und Schwellenländer, die in Bezug auf die stationäre Versorgungsdichte noch Nachholbedarf hätten.

Auch hat Prof. Thermann — ähnlich wie die Politik und viele medizinische Fachgesellschaften — im Blick, zunächst konservative Methoden auszuschöpfen. Der Patient entscheidet, wann operiert wird. Der Arzt begleitet ihn lediglich, so seine Vorstellung. "In einer Zeit, in der wir Herz-OPs auf YouTube anschauen können, haben wir es mit immer besser informierten Patienten zu tun. Ich begrüße das sehr. Als Ärzte müssen wir die Eigenverantwortung der Patienten stärken", sagt der Kniespezialist. Nicht jede Arthrose müsse operiert werden. Wird allerdings der Leidensdruck für den Patienten zu hoch, sind individuell die Möglichkeiten einer konservativen Therapie ausgereizt. Wann das nötig ist, bestimmt der Patient selbst.

Konservative Behandlung versus Operation

Viele medizinische Fachgesellschaften zielen in ihren Vorschlägen darauf ab, die konservativen Verfahren zu stärken. Würde man bei der Behandlung von Krankheiten näher an den Leitlinien bleiben, ist sich die Fachgesellschaft der Diabetologen sicher, könnte man Folgeerkrankungen vermeiden. "Oft wird Diabetes nur als einer von vielen Risikofaktoren für eine Herzerkrankung gesehen — es wird dann die Herzerkrankung behandelt, und die Notwendigkeit der Diabetesbehandlung tritt gerade im Krankenhaus in den Hintergrund", bedauert Diabetologe Professor Andreas Fritsche. Der aktuelle Krankenhaus-Report der AOK belegt zwischen 2008 und 2010 ein Anwachsen der Eingriffe am Herzen um 25 Prozent. Nötig seien Eingriffe wie Bypass-Operationen oder Herzkatheter nicht, wenn die Patienten rechtzeitig an zu hohen Blutzucker und Cholesterinwerten behandelt würden.

Ähnlich sieht es auch die Deutsche Gesellschaft für Orthopädische Chirurgie: "Wo mehr Orthopäden tätig sind, wird weniger operiert", heißt es in einer Stellungnahme. Eine Zunahme von Hüft- und Kniegelenksersatzoperationen sei zudem der demografischen Entwicklung geschuldet, denn Deutschland werde immer älter.

Die eigene Macht der Patienten

Das Gesundheitsministerium zielt darauf ab, durch mehr Überwachung und Zweitmeinungen vor operativen Eingriffen die konservative Therapie zu verstärken und die Zahl der Operationen zu minimieren. Bis zum 31. Juni sollen außerdem die Deutsche Krankenhausgesellschaft, der GKV-Spitzenverband und der PKV-Verband dem Minister Lösungsvorschläge dazu vorlegen, wie laut Gesundheitsministerium "eine Leistungsentwicklung im medizinisch notwendigen Umfang" aussehen kann. Was zwar einen Sparwillen deutlich macht, die Suche nach einer optimalen Patientenversorgung allerdings nicht ausdrückt.

Was aber kann der Patient selbst tun, damit er sicher sein kann, dass er nicht womöglich unnötig operiert wird? Zunächst sollte er sich einen Arzt suchen, zu dem er Vertrauen hat, der ihm alle Fragen bezüglich seines Leidens kompetent erklärt und ihn in die Lage versetzt, für sich verschiedene Entscheidungsmodelle abzuwägen. Zudem hat jeder Patient das Recht, eine Zweitmeinung einzuholen. Sinnvoll ist es dennoch vorab mit seiner Krankenkasse über das Vorhaben zu sprechen. Manche Kassen haben einen Zweitmeinungsservice und können Experten oder Kompetenzzentren für das jeweilige Thema empfehlen.

(wat)
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