Die Welt in Schwarz-Weiß Pingelap - Die Insel der Farbblinden

Pingelap/Tübingen · Mitten im Pazifischen Ozean zwischen Honolulu und Manila liegt ein kleines Archipel, dessen Menschen in besonderer Häufigkeit mit einer seltenen Erkrankung geschlagen sind: Jeder Zehnte dort sieht die Welt nur in schwarz-weiß. Eine Naturkatastrophe besiegelte das außergewöhnliche Schicksal dieser Menschen.

Pingelap - Wie die Welt in schwarz-weiß aussieht
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Foto: Hannes von der Fecht

Wäre die Insel Pingelap nicht auf einigen speziellen Karten verzeichnet, würde der kleine Inselstaat im Pazifischen Ozean in der Bedeutungslosigkeit versinken. Neben sieben weiteren Atollen zählt die kleine Insel mit ihren rund 240 Einwohnern zu den Föderierten Staaten Mikronesiens. Die erstrecken sich in Summe über ein gigantisches Staatsgebiet von beinahe zwei Millionen Quadratkilometern. Doch nur wenige hundert liegen über dem Meeresspiegel. Zwei Quadratkilometer dieser Fläche bilden das winzige Arichpel Pingelap.

In den Lagunen ist für Besucher der Insel ein buntes Naturschauspiel zu beobachten — das Wasser schimmert türkisblau, bunte Fische huschen durch das glasklare Nass. Von hier aus leuchtet in vielen Grüntönen dicht der Urwald. Doch jeder zehnte Bewohner Pingelaps sieht die bunten Farben nicht. Sie sind gefangen wie in einem Schwarz-Weiß-Film, denn sie leiden an einer seltenen totalen Farbblindheit, der Achromatopsie. Das, was andere glasklar sehen können, verschwimmt vor ihren Augen zu einer diffusen Masse. Farben kommen in ihrer Wahrnehmung gar nicht vor, und wenn andere die Sonne am wolkenlosen Himmel genießen, ziehen sie sich zurück in ihre Hütten. Schon normales Tageslicht blendet die Einwohner von Pingelap so sehr, dass sie fast nichts mehr sehen können. Nur die Sichtverhältnisse in der Nacht sind angepasst genug an die Augenkrankheit, dass die Betroffenen sich auch draußen bewegen können.

Während in westlichen Ländern ein Neugeborenes unter 30.000 unter einem Gendefekt leidet, der zu Anchromatopsie führt, trägt auf Pingelap fast ein Drittel der Bevölkerung den seltenen Fehler im Erbgut.

Wie aber konnte es dazu kommen, dass sich auf der fern gelegenen Insel diese Krankheit derart ausbreiten konnte? Die Antwort findet sich unter anderem eben in der geografischen Lage: In weiter Entfernung zum Festland sind die Menschen in besonderer Art und Weise den Naturgewalten ausgesetzt.

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Foto: Shutterstock/eveleen

Ein Taifun, der im Jahr 1775 über das Land wütete, riss neunzig Prozent der Bevölkerung in den Tod, so beschreibt es auch der im August 2015 verstorbene britische Neurologe Oliver Sacks in seinem Buch. Die meisten Überlebenden starben aufgrund einer Hungersnot im Katastrophengebiet kurz danach. Lediglich zwanzig Menschen überleben die furchtbare Naturkatastrophe und ihre Nachwehen.

Nur wenige Generationen dauert es, bis klar wird, dass hier Seltsames vor sich geht. Schon in der vierten Generation weisen fünf Prozent der Neugeborenen eine Genmutation auf, die die seltene Schwarz-weiß-Blindheit verursacht. Heute sind es zehn Prozent. Manche erzählen, es sei der Inselkönig gewesen, der den Gendefekt in sich trug und ihn so in Umlauf brachte. Derart dominant, dass es keinen anderen Ort auf der Welt gibt, an dem derart viele Menschen wie in einem Dauer-Schwarz-Weiß-Film gefangen sind. Es macht die eigentlich so kleine, unbedeutende Insel zu dem besonders schicksalhaften Ort, der sie mit Blick auf Anchromatopsie ist. Die Einheimischen haben für ihre Krankheit einen eigenen Namen gefunden. Sie nennen sie "Maskun", was so viel bedeutet wie "nicht sehen".

In den Augen befinden sich drei unterschiedlich Sorten von Zapfen, mit denen wir Farben sehen können. Daneben gibt es die lichtempfindlichen Stäbchen, die uns helfen, im Dunkeln zu sehen. Schon in der Gebärmutter entwickeln sich diese und geben bereits einem Fötus in der 28. Woche die Fähigkeit, in der Dunkelheit der Gebärmutter zu sehen. Zunächst nur in Schwarz und Weiß, doch dann vernetzen sich die Zapfen und unsere Welt beginnt sich zu färben.

"Das Sprichwort "Nachts sind alle Katzen grau" beschreibt auf nachvollziehbare Weise, wie wir selbst nachts sehen. Bei Menschen mit Achromatopsie ist das ähnlich", erläutert Professor Helmut Wilhelm von der Neuro-Ophtalmologischen Ambulanz des Universitätsklinikums Tübingen. Sie können allerdings auch bei Tag nur mit den Stäbchen gucken, die für die Nachtsicht gemacht sind. Die Zapfen der Netzhaut hingegen sind defekt. Aus diesem Grund bleibt ihnen die bunte Welt ein Leben lang vorenthalten. Sie werden nie eine Vorstellung von ihr entwickeln können.

"Die Funktion der Stäbchen, viel Licht aufzunehmen, führt bei den Achromaten dazu, dass sie unscharf sehen", erläutert er eine weitere Einschränkung. In Fallberichten schildern das die Betroffenen als eine der gravierendsten Einschränkungen der Erkrankung. Ihre Sehschärfe ist auf zehn bis 15 Prozent dessen reduziert, was Normalsichtige wahrnehmen können.

So sieht die Welt mit einer Augenerkrankung aus
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Foto: absv/Friese

Zudem leiden viele Betroffene an einem unaufhörlichen Augenzittern. Wer sich vorstellen möchte, wie das ist, der kann sich einen Zugreisenden vorstellen, der aus dem Fenster schaut. Dessen Augen bewegen sich schnell hin und her, weil sie sich immer wieder neu ausrichten müssen auf die vorbeirauschende Landschaft. Nystagmus nennt die Medizin das krankhafte Augenzittern, die unkontrillierbaren, schnellen Bewegungen der Augen.

Menschen, die hierzulande unter der genetisch bedingten Netzhauterkrankung leiden, kann auf verschiedene Art geholfen werden. "Bei Augenerkrankungen mit Blendempfindlichkeit empfehlen wir Brillen mit Lichtschutzgläsern zu tragen, die die Blendung reduzieren und sogenannte Kantenfiltergläser", erläutert Angelika Ostrowski vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband. Diese sorgen für verstärkte Kontraste und erleichtern Sehbehinderten die Wahrnehmung.

Groß sind die Hoffnungen eines Forschungsprojektes, das die Uniklinik Tübingen in Zusammenarbeit mit den Universitäten in München und Oxford voraussichtlich noch im Jahr 2015 startet. Auf dem Augenkongress der Deutschen Opthalmologischen Gesellschaft in Berlin erklärte Professor Dominik Fischer, wie man in Zukunft Patienten mit solchen Defekten gezielt mit einer Gentherapie helfen will. "Hierbei werden veränderte Gene, die zu Krankheiten führen, durch gesunde Gene ergänzt, um den Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen." Dazu schleust man das veränderte Erbgut über spezielle Viren in den Körper und repariert so den bestehenden Fehler. In Oxford hat man auf diese Weise bereits bei anderen erblichen Netzhauterkrankungen Patienten helfen können.

Die Bewohner von Pingelap müssen ohne solche medizinische Aussicht weiterleben. Für die meisten bleibt selbst der Wunsch eines Lichtschutzes vor den Augen unerfüllt. Nur wenige kommen so in den Genuss einer schützenden Brille. Denn das Leben auf der abgelegenen Mini-Insel ist unkomfortabel und medizinische Hilfe quasi nicht vorhanden. Es gibt dort nicht einmal einen Arzt. Doch wenn die Sonne untergeht, zieht es die lichtempfindlichen Farbblinden ins Freie wie Motten, die vom Mondlicht angezogen werden. Dann fahren sie aufs Wasser und jagen bei Fackelschein fliegende Fische.

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Foto: BVA

Bilder wie diese hat der Hamburger Fotograf Hannes von der Fecht im Jahr 2008 für seine Diplomarbeit an der Hochschule für Künste in Bremen eingefangen. Monochrom, so wie es für viele der Inselbewohner Realität ist. Hier sehen Sie die Fotos, die eine Geschichte von einem Leben erzählen, das dort viele mit anderen Augen sehen.

(wat)
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