Modell-Studie am Gymnasium Alsdorf Ausschlafen im Namen der Wissenschaft

Alsdorf/München · Im Städtischen Gymnasium Alsdorf bei Aachen läuft eine bundesweit einzigartige Studie: 115 Schüler dürfen morgens ausschlafen, wenn sie wollen. 45 von ihnen tragen sogar permanent einen Computer am Handgelenk, der ihren Schlaf-Wachrhythmus festhält. Die Frage: Werden ihre Leistungen so besser?

So erleben es Schüler, wenn sie später in die Schule dürfen
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So erleben es Schüler, wenn sie später in die Schule dürfen

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Foto: Tanja Walter

Acht Uhr morgens, die Schulglocke klingelt am Städtischen Gymnasium Alsdorf. Doch der Schulstart ist hier nicht für alle Kinder so früh. Wer lieber länger in den Federn bleibt, kann das tun und erst um 8.50 Uhr kommen — sofern er schon die Oberstufe besucht. Seit dem 1. Februar schlafen 115 der 250 Oberstufenschüler im Dienste der Wissenschaft aus und dokumentieren in einem Tagebuch ihre Schlafdauer, wie sie genächtigt haben und ob sie mit einem Wecker aufgewacht sind.

45 von ihnen haben sich sogar bereiterklärt, ständig einen kleinen Computer am Handgelenk zu tragen: Der zeichnet Dinge auf wie Lichtintensität sowie Tages- und Nachtaktivität und soll so helfen, die Frage zu klären, wie sich der spätere Schulbeginn auf den Schlaf der Jugendlichen und ihr Lernen auswirkt.

Die 115 Schüler sind die ersten überhaupt, die an einer solchen Studie in Deutschland teilnehmen. Wissenschaftlich begleitet wird das Modellprojekt von der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Team um den renommierten Chronobiologen Till Roenneberg. Er erforscht seit mehr als 40 Jahren die innere Uhr des Menschen und ihre Auswirkung auf Gesundheit und Wohlbefinden. Nun tut er das in Alsdorf bei Aachen. Er will wissen, was passiert, wenn man den Unterrichtsstart nach hinten verlegt. Denn - so die Vermutung aus anderen Studien: Wer zur falschen Zeit aufsteht, hat auch schlechtere Schulnoten.

Warum der Wecker das Problem ist

75 Prozent der Bevölkerung werden morgens durch das Piepen des Weckers wach. Ohne ihn würden viele ihre Augen erst später aufschlagen. Chronobiologe Roenneberg folgert daraus, dass dreiviertel der Menschen an Werktagen nicht ausgeschlafen sind. Zwischen der inneren Uhr, dem sogenannten cirkadianen Rhythmus, und dem Wecker auf dem Nachttisch klafft oft ein erheblicher Zeitunterschied. Wach aus dem Bett springen nur die sogenannten Lerchen. Menschen also, die abends gerne etwas früher ins Bett gehen und dafür morgens auch schon um 6 Uhr gut aus dem Bett kommen. Den Eulen dagegen ergeht es genau anders herum: Sie kommen nachts erst richtig in Fahrt - und schaffen es deshalb morgens kaum aus dem Bett.

Bei vielen Jugendlichen ist dieser Effekt sogar noch markanter. Wenn sie morgens um acht Uhr in der Schule sitzen, ist es auf ihrer inneren Uhr gerade mal Mitternacht. Chronobiologen der Universität München sammeln nun in Alsdorf Millionen von Daten.

Im Tiefschlaf, wenn der Unterricht beginnt

Was man bereits weiß: Viele Schüler sind eigentlich im Tiefschlaf, wenn sie aufgeweckt im Klassenzimmer sitzen sollen. In den ersten Schulstunden fallen einige von ihnen darum immer wieder in einen Mikroschlaf, in dem das Hirn kurzzeitig in den Offline-Modus stellt. Das bleibt nicht folgenlos. Wer über mehrere Jahre gegen seinen natürlichen Schlaf-Wach-Rhythmus lebt, der leidet irgendwann unter chronischem Schlafmangel. "Wenn die von der Gesellschaft auferlegten Zeitpläne den individuellen Schlafpräferenzen nicht entsprechen, führen die Unterschiede zwischen dem erwarteten Schlafverhalten an Arbeitstagen und dem, was die innere Uhr diktiert, zu einem 'social jetlag'", sagt Roenneberg. Der soziale Jetlag kann weit reichende Folgen für die Gesundheit und die Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit der Betroffenen haben.

Der 17-jährigen Klaudia Kozyrska beispielsweise könnte deshalb das neue Modell entgegen kommen. "Ich kann nachts besser lernen. Einmal habe ich für eine Bio-Klausur so viel gelernt, aber bekam es nicht in den Kopf. Um halb zwei nachts hatte ich es innerhalb von zehn Minuten kapiert", erzählt sie. Kozyrska nutzt das Langschläfer-Modell der Schule gerne. Ähnlich geht es ihrer 16-jährigen Freundin Melisa Dzajic. Sie fühlt sich wacher, wenn sie später kommen kann.

Tamara Stötzel (18) und Eva Raspe (17), die auch an der Studie teilnehmen, drücken an diesem Tag zwar früher die Schulbank, allerdings nicht ganz so freiwillig. "Montag, Dienstag und Mittwoch hatte ich erst später Unterrichtsbeginn", sagt Stötzel. Auch sie berichtet, sich dann ausgeschlafener und konzentrierter zu fühlen. Um ihr Lernziel für diese Woche jedoch zu schaffen und sich auf die Abi-Vorklausuren vorzubereiten, hat sie sich entschieden, heute früher zu kommen.

Möglich ist das flexible Arbeiten nur, weil an dem Gymnasium das Unterrichtskonzept nach Dalton umgesetzt wird. Es sieht neben dem üblichem Pensum täglich zwei Freiarbeitsstunden vor, in denen die Schüler ihren Unterricht selbst bestimmen können, also in welchen Räumen und mit welchen Lehrern sie arbeiten wollen. So sollen die Kinder zu einer größeren Eigenverantwortlichkeit angeregt werden. "Da wir beobachtet haben, dass die Oberstufenschüler oft auch ihre Freistunden nutzen, kamen wir auf die Idee ihnen freizustellen, ob sie den Stoff in einer regulären Dalton-Stunde oder zu anderen Zeiten lernen möchten", sagt Schulleiter Wilfried Bock. Wer länger in den Federn bleiben will, kann so den Stoff in einer Dalton-Stunde nachholen. Schulschluss ist somit auch für die Studienteilnehmer um 15.15 Uhr.

Warum es nichts nützt, Teenager früher ins Bett zu schicken

Der Gedanke, das besondere Schulprinzip um eine Art Gleitzeit zu erweitern, kam den Pädagogen nach einem Vortrag eines Hamburger Erziehungswissenschaftlers über den verschobenen Biorhythmus bei Jugendlichen. Diesen erklärt Eva Winnebeck vom Institut für Medizinische Psychologie an der Universität München so: "In der Pubertät verschiebt sich die biologisch vorprogrammierte Uhr nach hinten." Das Schlafhormon Melatonin wird deutlich später ausgeschüttet als bei Erwachsenen. Die Teenager könnten darum auch dann nicht einschlafen, wenn man sie früher ins Bett schicken würde.

Diese innere Uhr steuert unter Einfluss des Tageslichts, des Alters und Geschlechts unter anderem den Blutdruck und Hormonzyklus, aber auch den Schlaf-Wach-Rhythmus und die kognitive Leistungsfähigkeit. Bei Pubertierenden wirkt sich die Grätsche zwischen der biologischen Uhr und dem äußeren Taktgeber besonders nachteilig aus: "Wenn ihr Organismus auf Schlaf eingestellt ist, sitzen sie in Mathe oder müssen Gedichte interpretieren", sagt die Münchener Forscherin. Aus diesem Grund macht sich Chronobiologe Till Roenneberg für einen späteren Schulstart stark. Genau diese Überzeugung brachte den Münchener Forscher und die Alsdorfer Lehrer und Schüler zusammen.

"Wecken hält Schüler vom Behalten ab"

"Professor Roenneberg erklärte uns, dass wir durch einen Schulstart um acht Uhr die Schüler um ein Drittel ihrer Lernfähigkeit berauben", sagt der Schulleiter. Ein Grund dafür: Klingelt der Wecker zu früh, schließen die Jugendlichen den Schlaf nicht so ab, wie es natürlich der Fall wäre. Der letzte Schlafabschnitt beinhaltet nämlich kurz aufeinanderfolgend mehrere der sogenannten REM-Schlafphasen. "In denen träumt man am meisten. Zudem sind sie auch für das Memorieren im Gedächtnis wichtig, denn Lernstoff wird auch in dieser Phase abgespeichert", sagt Eva Winnebeck, die das von Roenneberg auf den Weg gebrachte Forschungsprojekt an der Schule wissenschaftlich mitbegleitet.

Mädchen durchlaufen die letzte der REM-Schlafphasen erst gegen 7.30 Uhr, Jungen sogar zum Teil noch eine Stunde später. "Im Schnitt müssen Schüler aber um sieben Uhr aufstehen. Überspitzt könnten wir sagen: Wir halten die Jugendlichen durch das Wecken vom Behalten ab", sagt Bock. Erste Anhaltspunkte darüber, wie sich das auf die Schulnoten auswirken könnte, sammelte Chronobiologe Thomas Kantermann von der Universität Groningen mit Hilfe von Fragebögen, die sein Kollege Roenneberg in München entwickelt hat.

Wie Früh- und Spätaufsteher in der Schule die gleichen Chancen bekommen können

In der niederländischen Studie, an der 741 Schüler zwischen elf und achtzehn Jahren teilnahmen, zeigte sich Erstaunliches: Verglich man die Notenergebnisse von Früh- und Spätaufstehern, zeigte sich eine Notenüberlegenheit der Kinder, die zu den frühen Chronotypen (Lerchen) zählen. Sie waren in den frühen Schulstunden im Schnitt eine Note besser als die späten Chronotypen (Eulen). "In den frühen Nachmittagsstunden glichen sich beide jedoch aneinander an. Wenn man biologisch gleiche Schulleistung abfragen wollte, müsste man die Prüfungen in den Nachmittag legen", sagt Eva Winnebeck.

Profitieren könnten die pubertierenden Nachteulen schon von einem geringen Schlafzuschlag. Eine Studie an einer Highschool in Rhode Island zeigte, dass Schüler, die morgens nur eine Viertel- bis halbe Stunde länger schlafen können, bereits weniger müde, außerdem motivierter und besser gelaunt waren.

Am 14. März 2016 wird die Auswertung der Daten aus Alsdorf beginnen. An der Schule ist man aber jetzt schon überzeugt: Unabhängig von der Studie gibt es längst Bestrebungen, das neu eingeführte Zeitkonzept bestehen zu lassen.

(wat)
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