Chronische Schmerzen Warum es falsch ist den Schmerz zu ignorieren

Neumünster · "Beiß' die Zähne zusammen!" - Schmerz lässt sich mit ein bisschen Willenskraft schon aushalten, suggeriert diese Aufforderung. Doch Tapferkeit ist bei Schmerzen die falsche Strategie.

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Foto: dpa, Oliver Killig

Der Finger pocht, weil sich um einen Splitter in der Haut eine Entzündung gebildet hat. Der Bauch tut weh, weil das Essen zu fett war. Der Kopf brummt von zu viel Sonne. Schmerzen sind ein Alarmsignal. Der Körper tut kund, dass etwas nicht stimmt. Doch manchmal bleibt der Schmerz, obwohl die eigentliche Ursache längst behoben ist. Der Schmerz wird chronisch - und bei vielen Betroffenen zum lebenslangen, oft quälenden Begleiter.

"Von chronischen Schmerzen sprechen wir immer dann, wenn sie länger andauern, als es der Heilungsprozess erwarten ließe", sagt Gerhard Müller-Schwefe, Leiter des Schmerz- und Palliativzentrums Göppingen und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin. 23 Millionen Menschen in Deutschland berichten laut einer aktuellen repräsentativen Studie von chronischen Schmerzen. Bei 2,2 Millionen Menschen ist der Schmerz selbst demnach zu einer Krankheit geworden, die die Betroffenen körperlich, seelisch und auch im sozialen Miteinander beeinträchtigt.

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Die dafür verantwortlichen Mechanismen sind weitgehend erforscht: "Das Nervensystem ist extrem lernfähig", erläutert Schmerzmediziner Müller-Schwefe. Die Folge: "Durch wiederholte Schmerzerfahrung verändern sich die Steuerprozesse bei der Weiterleitung der Signale: Nerven reagieren auch schon auf geringe Reize oder produzieren die Schmerzinformation sogar selbst." Vermeintlich harmlose Berührungen können dann wehtun. Oder es treten Schmerzen auf, ohne dass auf den ersten Blick ein Auslöser dafür erkennbar ist. Auch psychische Belastungen können eine Rolle spielen: "Sie führen dazu, dass die Filterfunktionen der körpereigenen Schmerzkontrolle nicht mehr funktionieren und Schmerzreize unkontrolliert durchgeschaltet werden", sagt Gerhard Müller-Schwefe.

Für die Betroffenen bedeutet das oft eine frustrierende Odyssee von Arzt zu Arzt. Bei Heike Norda aus dem schleswig-holsteinischen Neumünster begann sie mit einem Fahrradunfall. Das verletzte Knie musste mehrfach operiert werden, bei einem der Eingriffe wurde ein Nerv geschädigt, erzählt die Gründerin und Leiterin der Selbsthilfegruppe Chronischer Schmerz in Neumünster. Seitdem hat sie Schmerzen, jeden Tag, seit 30 Jahren. Sie ging zu Ärzten der unterschiedlichsten Fachrichtungen, immer mit der Hoffnung, dass sie die Ursache diagnostizieren und die Schmerzen lindern könnten. "Aber es gab nichts, was man mit bildgebenden Verfahren hätte darstellen können", schildert Norda das entmutigende Ergebnis der Untersuchungen.

Die einzige Möglichkeit, den Alltag einigermaßen zu bewältigen, waren sehr starke Schmerzmittel mit massiven Nebenwirkungen. Eine entscheidende Wende brachte der Aufenthalt in einer Schmerzklinik. "Ein Arzt sagte mir: "Sie werden den Schmerz ein Leben lang haben. Sie müssen es deshalb schaffen, dass Sie den Schmerz kontrollieren und nicht umgekehrt.""

Denn die Hoffnung, dass die Schmerzen mit der richtigen Behandlung wieder verschwinden werden, muss auch Winfried Meißner, Leiter der Sektion Schmerztherapie am Universitätsklinikum Jena, seinen Patienten in der Interdisziplinären Tagesklinik für Schmerztherapie meist nehmen. "Ziel der Behandlung ist es nicht, den Schmerz zu beseitigen - das wird bei chronischen Schmerzen nicht mehr gelingen", erläutert er.

Es geht stattdessen darum, die Betroffenen im Umgang mit ihrer Krankheit zu schulen, "ihnen zu zeigen, welche Aktivitäten sie in Gang setzen müssen, damit sie sich besser fühlen und auch wieder leistungsfähiger werden". Bei dieser sogenannten multimodalen Schmerztherapie arbeiten Schmerzmediziner, Krankengymnasten und Psychotherapeuten eng zusammen, stimmen täglich den Behandlungsplan miteinander ab. "Es gibt Patienten, bei denen Spritzen, Medikamente oder Physiotherapie nicht genügen", sagt Meißner. "Wir wissen mittlerweile, dass auch psychische und soziale Faktoren eine Rolle spielen."

Lässt sich chronischem Schmerz vorbeugen? Wichtig sei vor allem, dass akute Schmerzen schnell und konsequent behandelt werden, betont Gerhard Müller-Schwefe. "Nur so lassen sich die Lernprozesse im Gehirn verhindern, die zu chronischem Schmerz führen können."

Doch Schmerz werde oft nicht ernst genug genommen, ist die Erfahrung, die Heike Norda als Patientin gemacht hat. "Man muss als Schmerzpatient viel kommunizieren, mit den Ärzten, mit Freunden und Familie, am Arbeitsplatz. Denn es sieht ja niemand, wann und warum es einem schlechtgeht", sagt die Lehrerin, die auch Vorsitzende des Vereins SchmerzLOS ist. Möglichst viel über die eigene Erkrankung zu erfahren - auch das hat ihr geholfen. "Der Schmerz wird nie mein Freund werden", sagt Heike Norda, "aber ich weiß jetzt, wie ich mit ihm umgehen muss."

(dpa)
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