Demenzforschung Wie Musik die Erinnerungen zurückbringen kann

Düsseldorf · Ihre eigenen Kinder erkennen Demenzpatienten oft nicht mehr. Der Rückzug in die innere Welt macht das Reden miteinander schwer. Doch auf andere Art kann man die Betroffenen noch lange erreichen: mit Musik. Was das bewirkt und wie es auch den Angehörigen helfen kann, lesen Sie hier.

Alzheimer frühzeitig erkennen
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Foto: Aletia / shutterstock.com

Ihr liebster Platz ist der Sessel. Dort sitzt die alte Dame im Pflegeheim darum häufig. Apathisch und in ihre eigene Welt versunken. Sie ist dement. Die Erlebnisse ihrer jungen Tage trägt sie immer noch in sich. Doch der Zugang zu ihnen ist ihr verloren gegangen. Bis zu dem Tag, an dem eine Musiktherapeutin das Altenstift besucht. Sie findet einen neuen Weg — mit der Musik. Es ist nicht ruhige Musik, die sie zu neuem Leben erweckt. Eine alte Elvis-Scheibe läuft. "Schon bei den ersten Tönen sprang sie aus dem Sessel. Sie war wie elektrisiert", sagt Arthur Schall, Musikwissenschaftler und Psychologe.

Alzheimer stört das Wortgedächtnis

An der Universität Frankfurt forscht er mit daran, wie Musik und Gedächtnisinhalte miteinander verbunden sind. Wie können Klänge der Schlüssel zu Erinnerungen sein, die längst verloren geglaubt sind? Denn klar ist: bei allen der rund 130 dementiellen Erkrankungen geht die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation mit der Zeit mehr und mehr unter. Bei der häufigsten Demenzerkrankung — Alzheimer — ist "das wortbezogene Gedächtnis als erstes gestört", heißt es bei der Alzheimer Forschung Initiative. Die Musiktherapie setzt da an, wo Sprache längst verschwunden ist.

Denn Musik vernetzt nicht nur viele verschiedene Bereiche im Gehirn, sie regt auch sogenannte Neuroplastizität an. Seit einigen Jahren ist belegt, dass nicht nur im Jugendalter, sondern bis zum Ende des Lebens immer wieder neue Verschaltungen im Hirn entstehen. "Es passt sich immer wieder an und strukturiert sich neu", sagt Schall. "Man weiß auch darum, dass das musikalische Langzeitgedächtnis mit motorischen Arealen verbunden ist." Als die alte Dame bei den Klängen von Elvis im Altenheim aus ihrem Sessel aufspringt, zeigt sich das. Die Musik weckt in ihr Erinnerungen an ihre eigene aktive Tanzzeit. Kurz darauf bewegt sie sich mit der Therapeutin tänzelnd durch den Raum.

Zugang zu Erinnerungen und Emotionen über die Musik

In einer größeren Studie konnte gezeigt werden, dass sich Alzheimer-Patienten an Autobiographisches besser erinnerten und auch besser gelaunt waren, wenn sie Musik hörten. Sind musikalische Erinnerungen mit starken Emotionen verbunden, lassen sich diese besonders gut ansprechen. Das Lied, das bei der Hochzeit gespielt wurde. Lieder, die jemand im Kirchenchor gesungen hat oder die beim Wandern in geselliger Runde angestimmt wurden, sind später Schlüssel zu Erinnerungen, die sonst verloren wären. Denn die Synapsen, die den Weg zu ihnen zeigen, sind verkümmert. Musik kann dann über neu gelegte Hirnpfade die Tür dorthin erneut aufschließen und so Wohlbefinden erzeugen.

Wie das geschieht, erklärt Musiktherapeutin und Fachbuchautorin Simone Willig so: Wenn Musik auf unsere Ohren trifft, dann erreicht sie das limbische System, in dem unsere Emotionen verarbeitet werden. "In Sekundenschnelle entscheidet das darüber, ob ich mich in dieser Situation wohl oder unwohl fühle." Regelmäßig kann sie das in Gruppen beobachten, mit denen musiziert werde. Die Menschen werden lebendiger, sie beginnen, mit der Musik im Takt zu wippen.

Durch Musik lässt sich das Fortschreiten der Demenz abbremsen

Laut Schall gibt es Hinweise darauf, dass man die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, reduzieren oder das Voranschreiten der Demenz etwas aufhalten kann. Forscher fanden heraus, dass auch das Arbeitsgedächtnis und die Denkfähigkeit durch Musik angeregt werden. Am größten ist dieser Effekt, wenn man selbst aktiv musiziert, singt oder tanzt.

Um das herauszufinden, begleitete man 469 Senioren über rund fünf Jahre. Dabei schauten die Forscher auf den Effekt, den Musizieren, Schachspielen und Tanzen hatte. Das Ergebnis: Das Instrumentalspiel reduzierte das Risiko einer Demenzerkrankung um 70 Prozent. Etwas effektiver waren Schachspielen und Tanzen.

Auch eine finnische Studie von Forschern der Universität Helsinki weist diesen Weg. In einer Gruppe Senioren mit mittelschwerer Demenz wurde gesungen, eine weitere Gruppe hörte passiv Musik, eine dritte Gruppe blieb ohne musikalische Anreize. Dabei zeigten sich in der singenden Gruppe die größten Auswirkungen: Der Gemütszustand der Patienten verbesserte sich, der Stresspegel sank und das Kurz- und Arbeitsgedächtnis verbesserten sich. Sogar Orientierungsfähigkeit und Verstandesfunktion nahmen zu. Etwas geringere Effekte zeigten sich auch in der Gruppe der passiven Musikhörer. In der musiklosen Gruppe hatte sich der Zustand der Demenzkranken weiter verschlechtert.

So hilft Musik im Alltag mit Demenzkranken

Simone Willig weiß aus ihrer Arbeit mit Dementen, wie man das wiederum für den Alltag nutzen kann. Denn der Rückgriff auf das Arbeitsgedächtnis ermöglicht erst Tätigkeiten wie Kaffee kochen oder selbstständiges Trinken. Im fortgeschrittenen Stadium einer Demenz fällt aber beispielsweise das Trinken schwer. Die Betroffenen sitzen vor einem Glas Apfelsaft, nehmen aber selbst nach Aufforderung nichts zu sich. Die Musiktherapeutin zeigt in solchen Situationen Pflegenden und Angehörigen, wie es besser geht. Lieder wie 'Ein Prosit der Gemütlichkeit‘ oder 'Trink, Brüderlein trink‘ sprechen alte Erinnerungen an und bringen neue Verknüpfungen. Die Patienten trinken.

Weiterer Vorteil des Singens in Zusammenhang mit Nahrungsaufnahme: Die Mundmotorik verbessert sich und die Betroffenen können besser schlucken. "Zur Sturzprävention kann man Wanderlieder einsetzen", sagt Willig. Die Bewegungsabläufe werden dann sicherer.

Diese Vorarbeit ist nötig

Musik jedoch therapeutisch sinnvoll einzusetzen, setzt ein bisschen Vorarbeit voraus, sagen die Experten. Am besten sind die Effekte, wenn man Musik einsetzt, zu der es eine biografische Beziehung gibt. Diese verändere sich im Laufe der Zeit. Was früher die Volkslieder waren, seien heute die Beatles. Der Musikstil wechselt mit den Generationen — auch in den Altenheimen.

Willig rät, die Demenzkranken beim Einsatz von Musik genau zu beobachten. Denn manchmal werde Unruhe als Symptomatik der Erkrankung wahrgenommen. Nicht immer aber treffe das zu. Unruhe könne auch durch Stress ausgelöst werden. Bettlägerige Patienten mit einem dröhnenden Radio alleine zu lassen, könne zu einer solchen Reaktion führen. Sie können sich oft weder verbal mitteilen und um das Herunterregulieren der Lautstärke bitten, noch können sie den Sender wechseln, sich für andere Musik entscheiden.

Solche Situationen führten auch deshalb zu Unruhe, weil Menschen mit hirnorganischen Schäden eingehende Informationen nicht mehr richtig filtern können. "Sie sind mit ihren Ohren hilflos ausgeliefert", sagt Willig. Dadurch beschleunigen sich Atmung und Herzschlag, die Sauerstoffsättigung im Blut nimmt ab, der Stress zu. Die Augen könne man schließen, die Ohren hingegen nicht.

So können Angehörige den Einsatz von Musik nutzen

Dennoch ermutigen die Experten Angehörige und Pflege zu mehr Experimentierbereitschaft.

  • Beobachten Sie die Situation und überlegen Sie, welche Musik helfen könnte! Ein Wiegenlied zum Einschlafen, ein Trinklied zur Trinkaufforderung.
  • Überlegen Sie, was Ihrem Angehörigen und vielleicht auch sich selbst Entlastung bringen könnte. Mit welchen Musikstücken verbindet der Betroffene oder vielleicht auch Sie beide etwas? Was haben Sie in bedeutenden Momenten gehört?

Denn auch für Angehörige kann das Beschäftigen mit Musik Vorteile bringen. "Sie sind oft durch die Situation sehr belastet", sagt Schall. So zeigte sich als Randnotiz einer Studie der Universität Frankfurt, dass das begleitende Angebot einer musiktherapeutischen Angehörigengruppe auch ihnen selbst Entlastung brachte. "Daneben konnten sie etwas in ihren Alltag mit dem zu Pflegenden mitnehmen", sagt Schall. Denn gemeinsames Lesen, Fernsehen oder Gespräche seien irgendwann nicht mehr möglich. Musik biete einen neuen Weg an, sich zusammen mit etwas zu beschäftigen.

Wie im Fall eines Mannes, der sich zunächst im Stadium leichter Demenz der Musiktherapie vollkommen verschloss. Im Laufe des zweijährigen Projekts ließ sein Sprachvermögen nach und damit auch die Fähigkeit, seine Defizite bewusst zu reflektieren. Gleichzeitig sank die Hemmschwelle, auf einfachen Instrumenten wie Trommeln oder einem Xylophon zu spielen. Er begann stundenlang zu musizieren und wurde ausgeglichener. Die Musiktherapeutin schlug darauf der Ehefrau vor, gemeinsam zu Musik zu machen. Mit Erfolg: Die Frau berichtete von einer neuen Seite, die sie an ihrem Mann kennenlernte. Beide profitieren von der Kommunikation, die ohne Sprache auskommt. Der Forscher sieht darum Bedarf, Angebote auszuweiten, in denen Pfleger und auch Angehörige musiktherapeutisch angeleitet werden.

(wat)
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