Grenzenlose Selbstvermessung Die totale Selbstüberwachung per App

Düsseldorf · Schlaf, Hormone, Körpergewicht und der letzte Toilettengang – das sind Daten, die man sammeln und kontrollieren kann. Ausgewertet von Apps auf Smartphone oder Tablett sollen sie klüger, hübscher, besser machen. Aber, klappt das auch?

Schlaf, Hormone, Körpergewicht und der letzte Toilettengang — das sind Daten, die man sammeln und kontrollieren kann. Ausgewertet von Apps auf Smartphone oder Tablett sollen sie klüger, hübscher, besser machen. Aber, klappt das auch?

Haben Sie schon mal versucht, vor dem Schlafen fünf Minuten auf einem Bein zu stehen? Es könnte sein, dass sie dann besser schlafen. Oder haben Sie einmal aufgezeichnet, wie sich Ihre Hirnaktivität nach dem Genuss verschiedener Nahrungsmittel verändert? Es könnte sein, dass Butter Ihre Denkzentrale beflügelt. Solch seltsame Ideen, kann der falsch verstandene Einsatz von Gesundheits-Apps und Online-Tools mit sich bringen, wie Seth Roberts auf "quantifiedself.com" postet. Gesunde Menschen machen sich da zu wandelnden Datensammlungen, weil sie auf diese Weise ihr Leben optimieren wollen. Manchmal erscheinen die Ergebnisse solcher Bemühungen als geradezu absurd.

"Selbstvermessung" oder "Quantified Self" nennt sich der Trend, der seit 2007 in den USA immer mehr Menschen in seinen Bann zieht, und seit einiger Zeit auch in Deutschland immer mehr kontrollbegeisterte Anhänger findet. Dabei zeichnen Apps oder auch Gadgets wie EEG-Sensoren in Stirnbändern, Blutdruckmessgeräte mit USB-Ende, kabellose Aktivitäts- und Schlafarmbänder und Online-Anwendungen auf, wann was gegessen wird, wie der Blutzuckerspiegel auf den Nachmittagskuchen reagiert und wie viele Kalorien bis zum Abend mit den aufgezeichneten Schritten verbrannt werden.

Auf diese Weise wollen die Nutzer besser abnehmen oder ihr Training optimieren. Andere Self-Tracker suchen nach dem besten Weg zum stressfreien Leben. Eine ganz neue Dimension bekommt dabei die Suche nach den so genannten "inneren Werten". Sind damit doch plötzlich die Blut- und Leberwerte gemeint?

Nutzlose Technikgläubigkeit

Stresschecker nennt sich eine der kostenpflichtigen digitalen Spielwiesen, mit der sich das Stressniveau ermitteln lässt, objektiv natürlich. Gemütlich können Datensammlungswillige auf der Couch mit entsprechender Software ihre persönliche Stresskurve aufzeichnen und in Diagrammen und Verläufen sichtbar machen. Ein Sensorclip am Ohr misst dabei Pulsschlag und Herzrhythmusvariationen. Am Ende blinken Kondition, Vitalität und Entspannungsgrad über den Monitor, Tipps inklusive: "Ihr Relax-Index weist einen ungünstigen Wert auf, der möglicherweise durch Stress verursacht wird. Tritt in den kommenden Tagen keine Verbesserung ein, so empfiehlt es sich, entschieden zu handeln", wirft die rund 70 Euro teure Software schwammig aus.

Ratgeber ist nicht der Arzt

Sehr viel weiter ist man mit der Selbstvermessung in den USA. PatientsLikeMe heißt eine Plattform, auf der User persönliche Daten über ihre Gesundheit, ihr psychisches Wohlbefinden und Körperfunktionen eingeben und bunt ausgewertet ihren Verlauf ausgespuckt bekommen. Begeistert berichten Hautkranke und Epileptiker, wie sie so ihre Krankheit besser in den Griff bekamen. Zuvor haben sie über Wochen Daten wie Pulsschlag, ihre Stimmung, Schmerzen, Muskelanspannung, Hyperventilation und Medikamenteneinnahme dokumentiert. Ihren Fleiß belohnt die Giga-Patienten-Datenbank: Sie können abrufen, welche Arzneimittel anderen mit entsprechender Vorerkrankung besonders gut geholfen haben und welche Behandlung bei Fremden nach subjektiven Angaben gut anschlägt. 220.000 Mitglieder nutzen das. Diskutieren und austauschen kann man sich gleich online und in Videos seine Erfahrungen präsentieren.

Datenschützern wird schwarz vor Augen

Datenschützern wird schummrig vor Augen, denn durch die Mitteilungswut der Kranken und Gesunden füttern sie Datenspeicher mit intimsten Details. Die Vernetzungen über facebook und Co. sorgt für schwindelige Transparenz nach außen. Ohne Sorge erlauben viele sogar die Bestimmung ihres Aufenthaltsorts per Handy. Wie die beliebteste und umsatzstärkste Fitness-App runtastic, die sich ursprünglich an Läufer wandte, mittlerweile aber für mehr als 50 Sportarten nutzbar ist. Sie zeichnet unter anderem Laufrouten auf und mahnt das vergessene Training an.

Geht es Sportlern um Leistungskurven und Trainingspläne, die Grafiken ihnen zusoufflieren, sind es bei andern Healthcare-Apps optimale Blutzuckerwerte, günstige Ernährungs- und Schlafgewohnheiten. Die gesunde Selbstwahrnehmung und das Gefühl für eigene Bedürfnisse scheinen abgemeldet. Sind Selbstvermesser vielleicht besonders zwanghaft oder hypochondrisch veranlagt? Weisen sie andere Persönlichkeitsmerkmale auf als der Durchschnitt? Man weiß es nicht. Bislang wurde es noch nicht systematisch untersucht. Wohl aber zeigt eine wissenschaftliche Arbeit, was die Self-Tracker antreibt. Marica Nißen hat für das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) eine Umfrage gemacht und dabei mehr über diesen Typus Mensch herausgefunden. Im Wesentlichen handelt es sich um Einzelkämpfer. Sie glauben, sich, ihren Körper und ihre Psyche über die gewonnene Matrix selbst besser zu verstehen.

Medikamente — nicht die Selbstbestimmung aufgeben

Gefährlich kann der Glaube an die Technik bei Angaben zu Medikamenten und ihrer Wirkfähigkeit werden. Gesammelte subjektive Wahrnehmungen werden in Datenbeichtstühlen gesammelt und ohne wissenschaftlichen Anspruch über den Jüngern ausgeschüttet. Die Zeitschrift "Psychologie heute" führt zum Beipiel einen Fall an, in dem auf einer Plattform das Rauchen von Cannabis und Zigaretten als ebenso hilfreich und wirkungsvoll wie die Einnahme von Antidepressiva empfohlen wird. Zahlreiche Studien beschäftigen sich mit einer zwar positiven Wirkung der fünfblättrigen Droge bei mittleren Schmerzen. Unausgereift aber sind die Ergebnisse bezüglich der Behandlung psychisch Kranker.

Vieles nicht ausgereift

Auch von technischer Seite betrachtet, verzerrt sich das Bild der Selbstvermessung: Viele Geräte und Programme stecken noch in der Entwicklung. So berichtet ein Käufer eines Schlaftrackers, dass er nach nächtlicher Messung morgens stets seine schlechte Schlafqualität bescheinigt bekam. Tatsächlich fühlte er sich selbst aber ausgeschlafen und fit. Ein anderer beschreibt den Einfluss, den das ständig mitlaufende Programm auf ihn und sein Leben ausübt: "…Allerdings ertappe ich mich immer wieder dabei doch noch unterbewusst ein paar Schritte zu gehen oder ein, zwei Treppen hochzusteigen, um das nächste Ziel oder Abzeichen zu erreichen." Körperliche Aktivität wird zum Zwangsspiel, Bewegung zum geplanten Muss. Das Maß aller Dinge kann nur noch ein Rechner ermitteln. Vom Anspruch bewusst lebender Mensch und selbstbestimmter Patient sein zu wollen, müssen wir uns in einer App- und Gadget-Gesellschaft dann wohl verabschieden.

(wat)
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