Medizin Erstmals Gen-Therapie beim Menschen

Amsterdam · Ein niederländisches Unternehmen darf als erste Pharma-Firma ein Medikament offiziell zur Gen-Therapie einsetzen. Es schleust fremde Gene in menschliche Zellen ein. Die Medizin steht vor einer Revolution.

Medizin: Erstmals Gen-Therapie beim Menschen
Foto: Uniqure, J.Gene Med., Radowski

John Kastelein wird nicht müde, zu erklären, dass die neue Therapieform nur bei sehr schwer erkrankten Menschen eingesetzt wird, für die bisher keine Therapie existiert. Ihnen fehlt ein Enzym, welches Fett im Blut abbaut. Dadurch entzündet sich die Bauchspeicheldrüse, verstopfen kleine Blutgefäße: Die Patienten klagen ein Leben lang über starke Schmerzen, sie müssen Fett meiden, wo sie nur können. Viele sterben jung. In Deutschland trifft dieses Schicksal etwa 160 Menschen.

In der Zukunft sollen diese Patienten mit einer Gen-Therapie behandelt werden und John Kastelein leitet das Projekt. Die holländische Pharma-Firma UniQure bietet ihnen die erste in Europa zugelassene Gen-Therapie an. Die Betroffenen erhalten etwa 60 Injektionen in den Muskel, jede Spritze enthält das den Patienten fehlende Stück Erbgut: Ein Gen, das die Informationen für das Enzym zum Fettabbau liefert.

Das Verfahren gleicht einem Wunder. Eine einzige Behandlung reiche aus, berichtet Kastelein im Interview mit der "Zeit". Die wenigen Patienten, an denen das Medikament erprobt wurde, lebten schon fünf Jahre damit, sagt er. Sie können Fett ein wenig besser verwerten — keine Heilung, aber immerhin eine deutliche Verbesserung ihrer Situation. Die Entwicklung dieser Therapie folgt dabei anderen Regeln als bei normalen Medikamenten. Die Testgruppe ist mit nur 27 Menschen aus Kanada und den Niederlanden sehr klein — und damit, so argumentieren die Kritiker, sei es kaum möglich, Aussagen über Nebenwirkungen zu machen.

Damit ist die Schwachstelle der Gen-Therapie beschrieben. Was sich theoretisch wunderbar anhört, zeigt im Alltag Schwierigkeiten. Jesse Gelsinger ist das Trauma der Gen-Therapie. Er starb vor 13 Jahren bei einem klinischen Test in den USA, vermutlich waren die Viren, die das Gen in die Körperzelle einschleusen sollen, für ihn zu aggressiv. Ein paar Jahre später erkrankten andere Versuchspersonen (Kinder praktisch ohne Immunsystem) der Gen-Therapie überraschend an Leukämie — vermutlich war das Hoffnung bringende Gen an der falschen Stelle im Organismus eingesetzt worden. Die Patienten konnten aber mit einer Chemotherapie gerettet werden.

Das war 2003 — und damals sah es so aus, als ob das Konzept der neuen Therapie an der Realität gescheitert sei. Trotzdem haben viele Forscher weitergemacht, auch John Kastelein. Die Perspektive der Heilung von schweren Erkrankungen durch fehlerhafte Gene ist viel zu attraktiv — aus Forschungsgesichtspunkten, wohl auch aus finanziellen Erwägungen. Ein erhöhter Cholesterinspiegel ist eine Volkskrankheit, die vermutlich auch auf einen Gendefekt zurück geht. Deshalb schauen die Forscher weltweit jetzt auf Amsterdam. In den USA, wo die Mehrzahl der Studien läuft, darf das Verfahren nicht verwendet werden.

Wenn die Therapie vermutlich im Herbst 2013 mit Erwachsenen beginnen soll, werden die Patienten besonders eng kontrolliert. "So eine Therapie gehört in eine akademische Klinik, wo man sich mit der Krankheit und den Risiken auskennt", sagt Kastelein im Interview.

Offen bleibt, ob das Prinzip der Niederländer auf andere Therapien übertragbar sein wird. Sie haben als "Taxi" für das Gen-Schnipsel ein spezielles Virus gewählt, das Muskelzellen infiziert. Es sei weit verbreitet in der Bevölkerung, mache aber nur sehr selten Menschen krank. Die Wahl dieser Genfähre könnte für den Erfolg so entscheidend sein, wie die Frage, ob das Virus auch Samen- oder Eizellen befallen kann und damit möglicherweise Missbildungen hervorruft.

Die Amsterdamer Spritzen können also kaum als Durchbruch gewertet werden und fallen noch in das experimentelle Stadium. Aber sie sind eines der ersten praktischen Ergebnisse der modernen Forschung rund um Gentechnik. Während deren Einsatz bei Pflanzen in Europa nicht akzeptiert wird, könnte die medizinische Anwendung das Blatt noch einmal wenden.

Mit weniger Kontrollen, aber ähnlichem Einsatz wird auch in China an Gen-Therapie gearbeitet. Sie wird dort angeblich seit 2004 gegen Hals- und Kopftumore eingesetzt — weitere Informationen gibt es nicht.

(RP/anch/csi)
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