Gesundheitsgefahr Kinder bekommen in Deutschland die meisten Antibiotika

Hamburg/Bremen · 800 Tonnen Antibiotika schlucken die Deutschen jährlich im Schnitt. Was die wenigsten wissen: Die meisten der Pillen werden Kindern verordnet. In vielen Fällen völlig ohne Nutzen, sagen Experten. Wir haben uns angeschaut, welche gesundheitlichen Folgen das für die Kleinen haben kann und wo in Deutschland die meisten Antibiotika verordnet werden.

 Kinder schlucken die meisten der jährlich rund 800 Tonnen verordneten Antibiotika in Deutschland.

Kinder schlucken die meisten der jährlich rund 800 Tonnen verordneten Antibiotika in Deutschland.

Foto: Shutterstock.com/ Nagy-Bagoly Arpad

Antibiotika gehören schon seit Jahren zu den umsatzstärksten Wirkstoffgruppen in der ambulanten Verordnung. Allein die Haus- und Fachärzte verschreiben zwischen 500 und 600 Tonnen pro Jahr, hinzu kommen rund 200 Tonnen, die in Krankenhäusern verabreicht werden, so schlüsselt der nationale Antibiotikabericht den Verbrauch in Deutschland auf. Erstellt wird der vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, der Paul-Ehrlich-Gesellschaft und der Abteilung Infektiologie der Medizinischen Uniklinik Freiburg.

 Kinder schlucken den größten Anteil der rund 800 Tonnen Antibiotika, die jährlich verordnet werden.

Kinder schlucken den größten Anteil der rund 800 Tonnen Antibiotika, die jährlich verordnet werden.

Foto: Shutterstock/Ermolaev Alexander

So viele Infekte sind normal

Unmengen sind das, die im Mammutanteil leichtfertig den Kleinsten verordnet werden. Ihr Immunsystem ist noch nicht voll ausgereift, weshalb sie sich im Kindergarten und Schulen am schnellsten mit Krankheiten anstecken. Was Eltern oft zur Verzweiflung treibt, ist im Vorschulalter vollkommen normal: Ein Infekt scheint den anderen abzulösen. Acht bis zwölf solcher Erkrankungen macht der Spross nach Informationen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin im Schnitt im Jahr durch. Typisch sind vor allem Erkältungen, Atemwegsinfekte und Mittelohrentzündung.

In 80 Prozent der Fälle werden akute Atemwegsinfekte durch Viren verursacht, sagen die Experten der Stiftung Kindergesundheit. Doch mehr als ein Drittel aller Vier- bis Sechs-Jährigen bekommt wenigstens einmal im Jahr ein Antibiotikum verordnet, ergab eine repräsentative Forsa-Umfrage im Auftrag der Krankenkasse DAK. Die aktuellsten Zahlen aus dem nationalen Antibiotikabericht, sind noch krasser: 70 Prozent der Kinder unter fünf Jahren nahmen 2010 mindestens ein Antibiotikum. Dieser Wert ist ungefähr doppelt so hoch wie der für die anderen Altersgruppen. Am häufigsten wird mit der antibakteriellen Superwaffe behandelt, was meist durch Viren ausgelöst ist: Bronchitis. Auf Platz zwei folgt die Mittelohrentzündung. Ein Viertel der Diagnosen lautet Erkältung, die immer viral bedingt ist.

Das würde oft besser helfen

Helfen würde den Kleinen auch ein Mittel, das die Symptome lindert. Bei einem Schnupfen könnten das lokal wirkende Nasentropfen und bei Fieber und Gliederschmerzen fiebersenkende und schmerzlindernde Arzneimittel wie Ibuprofen oder Paracetamol sein. Wie also kann es dazu kommen, dass vor allem Haus- und Kinderärzte inflationär das verschreiben, was als Wunderwaffe statt triefende Schnupfennasen lebensbedrohliche Infektionen heilen sollte?

"Viele Eltern, die ihr Kind zum Arzt bringen, suggerieren schon, dass sie ein Antibiotikum erwarten, weil andere Mittel versagt haben", sagt Dr. Michael Freitag, Facharzt für Allgemeinmedizin am Uniklinikum Jena. Ungeduld und mangelndes Wissen über den Verlauf von Krankheiten seien oft ausschlaggebend für die Fehleinschätzung, so erklärt er in Zusammenhang mit den erschreckenden Umfrage-Ergebnissen des DAK-Reports. Auch wenn die Erwachsenen nicht selbst Patient sind, leiden sie mit und das auch in beruflicher Hinsicht. Kranke Kinder benötigen Pflege. Für berufstätige Eltern bedeutet das zusätzlichen Druck. Den versuchen sie dadurch zu mindern, dass sie potente Arzneien für die Kinder wollen, damit diese schnell wieder in Hort oder Schule gehen können.

Nordrhein-Westfalen Spitzenreiter bei Kinder-Verordnung

Prof. Gerd Glaeske, Co-Leiter der Abteilung Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung der Universität Bremen bestätigt diese Einschätzung. Antibiotische Medikamente würden von den Ärzten häufig als Beruhigungspille für die Eltern verschrieben, sagt er in einem Interview auf youtube. Zu diesem Ergebnis kommt er, weil er im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung die Verschreibungspraxis in Deutschland untersucht hat.

Stutzig machen den Pharmazeuten vor allem die großen regionalen Unterschiede, die sich in der Studie abzeichnen. Spitzenreiter ist Nordrhein-Westfalen, gefolgt von Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Am seltensten verordnen Mediziner in Sachen, Brandenburg und anderen östlichen Bundesländern Medikamente wie Penicillin oder Breitbandantibiotika.

Fachärzte verordnen zurückhaltender

Es zeigt sich, dass Fachärzte bei der Verordnung die meiste Zurückhaltung üben. Während Hausärzte bei nicht eitrigen Mittelohrentzündungen, bei denen laut Leitlinie nur in Ausnahmefällen ein Antibiotikum vonnöten ist, in 33 Prozent der Fälle gleich zur vermeintlichen Allheilswaffe griffen, waren es bei den Kinderärzten nur 17 Prozent und bei den Hals-Nasen-Ohren-Ärzten sogar nur neun Prozent.

Die offenkundige Überversorgung ist nicht nur schlecht für die kleinen Patienten, die als Nebenwirkungen vor allem mit Magen-Darm-Problemen und Durchfällen zu kämpfen haben. Denn das Mittel, das die Bakterien ausradieren soll, leistet ganze Arbeit und vernichtet auch nützliche Bewohner im Darm. Die Gabe von Antibiotika kann sich möglicherweise sogar auf lange Sicht negativ auf die Gesundheit auswirken. Laut Dr. Michael Freitag, gibt es Hinweise darauf, dass Kinder mit Mittelohrentzündung ein höheres Risiko dafür haben, erneut daran zu erkranken, wenn sie mit Antibiotika behandelt werden.

Das sind die Gefahren früher Antibiotika-Gaben

Zudem stehen diese Medikamente auch seit mehreren Jahren in Verdacht, das Asthma- und Allergie-Risiko zu erhöhen, werden sie im ersten Lebensjahr verordnet. Erst jüngst veröffentlichten britische Forscher im Fachmagazin "The Lancet" eine Studie, in der sie nachwiesen, dass solch frühe Gaben das Risiko für Asthma und andere schwere Atemwegserkrankungen deutlich erhöhen. Patienten, die schon in frühen Kindertagen Antibiotika bekommen hatten, reagierten im Alter von elf Jahren empfindlicher auf Angriffe von Viren. Die Wissenschaftler bringen das in Zusammenhang mit dem Verschreiben von Antibiotika gegen virale statt bakterielle Infekte.

Eine frühere amerikanische Untersuchung stellte erhöhte Gefahr nicht nur für spätere Asthmaerkrankungen fest, sondern sah bei Antibiotikagaben in der Wiege eine höhere Gefahr für Allergien im Schulalter als gegeben an. Über die Wirkung der Mittel auf den Darm werde das Immunsystem der Kleinkinder so sehr beeinflusst, dass sich daraus solche späteren Schwächen ergeben könnten.

Gefürchtet sind neben direkten Nebenwirkungen und späteren gesundheitlichen Auswirkungen auch das Entstehen von Resistenzen. Zahlreiche Erreger wie Staphylokokken, Kolibakterien und Darmkeime lassen sich oft mit herkömmlichen Antibiotika nicht mehr bekämpfen. Das gilt in zunehmendem Maße für den Staphylococcus aureus, der als multiresistenter Krankenhauskeim MRSA bekannt ist.

Tipp für Betroffene

Für den Patienten heißt das, ruhig den Arzt auch einmal kritisch auf eine Verordnung anzusprechen und sich genau erklären zu lassen, warum er den Einsatz des Präparats in diesem Fall für notwendig erachtet. Manchmal ergeben sich durch das Gespräch alternative Medikamente oder Heilmethoden, auf die man zunächst zurückgreifen kann. Erst, wenn sich nach einigen Tagen der Gesundheitszustand nicht verbessert, oder er sich sogar verschlechtert, sollte man dann auf die bakterielle Waffe zurückkommen. Denn dann ist es möglich, dass sich zu dem Virusinfekt Bakterien dazugesellt haben und eine sogenannte Superinfektion auslösen, die man dann am besten mit Antibiotika behandelt.

(wat)
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