Analyse Warum Eltern oft Schuld an den Extrapfunden ihrer Kinder haben

Düsseldorf · Die Weltgesundheitsorganisation warnt: Die Zahl fettleibiger Kinder und Jugendlicher hat sich seit 1975 verzehnfacht. In Deutschland ist immerhin jedes vierte Kind zu dick. Eine Ursachensuche.

Immer Kinder unter 18 Jahren leidern unter Adipositas (Symbolbild).

Immer Kinder unter 18 Jahren leidern unter Adipositas (Symbolbild).

Foto: Shutterstock/Sharomka

Sportunterricht steht in der Schule selbstverständlich auf dem Lehrplan. Die Kinder sollen so eine Abwechslung vom trockenen Tafelunterricht bekommen, ihre Koordination und ihre Fitness verbessern. Nicht mehr so selbstverständlich ist aber, dass ein Kind auch ohne Probleme daran teilnehmen kann. Immer häufiger sind überflüssige Kilos im Weg. Laut einer aktuellen Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Imperial College London hat sich die Zahl fettleibiger Kinder in vier Jahrzehnten verelffacht: 1975 waren weltweit etwa elf Millionen Fünf- bis 19-Jährige fettleibig, im vergangenen Jahr stieg diese Zahl auf 124 Millionen.

"Etwa 90 Prozent der Zunahme sind darauf zurückzuführen, dass anteilig mehr Kinder deutlich übergewichtig sind. Nur zehn Prozent entfallen auf die wachsende Bevölkerungszahl", sagt Majid Ezzati vom Imperial College. In Ländern mit hohem Einkommen stiegen die Zahlen zwar nicht weiter, verharrten aber auf viel zu hohem Niveau. Alarmierend sei der Anstieg in ärmeren Ländern und in solchen mit mittleren Einkommen wie den bevölkerungsreichen Staaten China und Indien.

Für Deutschland ist ein Anteil von knapp drei Prozent fettleibiger Kinder im Jahr 1975 erfasst, im vergangenen Jahr waren etwa sieben Prozent der Mädchen und elf Prozent der Jungen betroffen. Zwar bewegen sich Kinder hierzulande körperlich im Mittel wieder etwas mehr, und die Erfassung bei den Schuleingangs-Untersuchungen zeigt, dass die Zahl zu dicker Erstklässler leicht zurückgeht. Aber: "Die Schere zwischen sehr fitten Kindern und solchen, die sich überhaupt nicht bewegen, öffnet sich immer weiter", sagt Alexander Woll vom Institut für Sport und Sportwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie. Diesen Eindruck bestätigt auch Gregor Quellmann, Sportlehrer am Schloss-Gymnasium Düsseldorf-Benrath: "Man sieht, dass schon viele der Fünftklässler immer weniger mobil sind, weniger dynamisch und schnell kurzatmig. Das liegt am Übergewicht."

Ursachen für diesen Trend gibt es viele. Laut Studie zählen dazu Werbung für ungesunde Snacks, hohe Preise für gesunde Nahrungsmittel und weniger Bewegung. Experten warnen jedoch vor einem ganz anderen Problem: "Die Eltern kümmern sich zu wenig um die Ernährung ihrer Kinder", sagt Quellmann. Viele Schüler würden kein Pausenbrot mitbringen, sondern müssten sich mittags selbst etwas am Kiosk kaufen. Manche sehe man schon morgens mit der Chipstüte in den Schulgängen, und manchmal werde beim Elternsprechtag klar, dass die Kinder einen bestimmten Ernährungsstil vorgelebt bekommen.

Was die Eltern vorgeben, ist wichtig, weil Kinder noch kein Gefühl für das richtige Maß haben. Zwar haben schon Säuglinge ein natürliches Sättigungsgefühl, aber vor allem die Unter-Fünfjährigen sind darauf angewiesen, dass die Familienmitglieder dieses auch anerkennen. Zieht das Baby beim Füttern den Kopf weg, hat es womöglich keinen Hunger mehr. Und nicht jedes Quengeln steht für einen leeren Magen. Es kann auch den Wunsch nach Aufmerksamkeit zum Ausdruck bringen - oder eine volle Hose. "Wenn die Ernährung einmal falsch läuft, gräbt sich das tief ins Gedächtnis ein. Einen ungesunden Lebensstil wieder umzukehren, ist fast aussichtslos", sagt Mathilde Kersting, Geschäftsführerin des Forschungsinstituts für Kinderernährung in Dortmund.

Kurz: Kinder brauchen nicht nur bei Kita, Schule und Hobbys eine Begleitung, sondern auch bei Essensentscheidungen. Wie wichtig das ist, lässt sich leicht an der wohl klassischsten aller Familiensituationen verdeutlichen: dem gemeinsamen Abendessen. Eine amerikanische Studie an mehr als 8000 Vorschulkindern zeigte, dass eine einmal täglich als Familie eingenommene Mahlzeit die Häufigkeit der Fettleibigkeit im Kindesalter um fast 40 Prozent senkt. "Doch das gemeinsame Abendessen, das in Ruhe und an einem großen Tisch eingenommen wird, gibt es immer weniger", sagt Kinderpsychiater Michael Winterhoff.

Mit dem Ritual fällt aber auch das gesamte Drumherum weg. Weder wird der Tisch gemeinsam gedeckt, noch können die Kinder neugierig in den Kochtopf gucken und dabei von Mama oder Papa etwas über Lebensmittel lernen. Die familiäre Esskultur ist in vielen deutschen Wohnzimmern dem Alltagsstress gewichen. Das bedeutet: vor dem Fernseher essen statt am Tisch. Lieber aus der Schachtel kochen als selbst lange Gemüse schnippeln.

Wie eine gesunde Ernährung funktioniert, wissen viele Kinder und somit auch Teenager nicht. Studien des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie zeigen allerdings, dass Kinder, die neben dem Fernsehen oder Computerspielen essen, dazu neigen, zu viel in sich hineinzustopfen. Das liegt auch daran, dass sich das Sättigungsgefühl erst 20 Minuten verzögert einstellt. Wer also nicht in Ruhe isst, merkt nicht, wann er satt ist.

Natürlich kann man einen Teil der Ursachen bei den Genen suchen. Tatsächlich kann das Erbgut bis zu 60 Prozent dafür verantwortlich sein, dass ein Mensch schon in der Kindheit beginnt, in die Breite zu gehen. Das konnten Wissenschaftler durch Forschungen mit eineiigen Zwillingen bestimmen, die getrennt aufwuchsen. 60 Prozent: Das ist zwar viel, es bedeutet aber auch, dass mindestens 40 Prozent von anderen Faktoren bestimmt werden.

Quellmann würde deswegen gerne mehr mit den Erziehungsberechtigten reden, über die richtige Ernährung und über Fitnessprogramme. Möglich ist das aber bislang nicht. "Ich habe das schon versucht, aber die Eltern reagieren oft sehr aufbrausend", sagt der Düsseldorfer Sportlehrer. Doch je länger ein Mensch ein zu hohes Gewicht hat, desto mehr Gesundheitsprobleme entwickelt er. Da ist es kaum verwunderlich, dass immer mehr Kinder unter Diabetes leiden. Andere Folgen von Übergewicht sind ein höheres Risiko für Diabetes, Krebs oder Schlaganfälle, bei Kindern zudem auch Mobbing in der Schule und Ausgrenzung im Jugendalter. Aber bis das Jammern darüber laut wird, haben die Eltern von Kita-Kindern und Grundschülern ja noch Zeit.

(ham )
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