Diagnose Krebs "Herr Doktor, wie lange habe ich noch?"

Düsseldorf · Zu den kritischen Situationen des Arzt-Patienten-Verhältnisses zählt die Frage, wie viel Zeit dem Patienten noch bleibt. Viele Ärzte scheuen sich vor Prognosen. Wie die Überlebenschancen je nach Krebsart stehen und wie verlässlich Statistiken sind.

 Bekommt ein Patient die Diagnose Krebs, ist meist eine der drängendsten Fragen, die nach der Überlebenschance.

Bekommt ein Patient die Diagnose Krebs, ist meist eine der drängendsten Fragen, die nach der Überlebenschance.

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Diese Frage schwebt immer im Raum, auch wenn der Betroffene sie nicht (oder noch nicht) stellt. Er muss jetzt erst einmal diese schwere Diagnose schultern, die ihm soeben mitgeteilt wurde. Sie bedeutet, dass die Endlichkeit des Lebens in seinem Fall vielleicht früher verhandelt wird. Krebserkrankungen sind in jedem Fall sehr gefährliche und häufig tödliche Erkrankungen. Die Frage lautet: Wie lange werde ich den Krebs überleben? Oder werde ich an ihm sterben? Und vor allem: Wann?

Gewiss gibt es den Patienten, der alles verdrängt. Für den anderen sind es aber elementare Fragen: Wird er sein Urenkelkind, das im Bauch seiner Enkelin schlummert, noch zu Gesicht bekommen? Oder kann er es gar zur Einschulung begleiten? Kann er eine Weltreise machen? Oder sollte er bald festlegen, wer bei seiner Beerdigung den Kaffee ausrichtet und wer Orgel spielt?

Wie hoch sind die Überlebenschancen bei Krebs?
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Ärzte tun sich schwer damit, die berechtigte Frage ihrer Patienten nach einer Überlebensprognose zu beantworten. Präzise Antworten sind nämlich unmöglich und in gewissem Maße unredlich. Mediziner erleben es oft, dass solche Aussagen Lügen gestraft werden. Die eine werde mit ihrem Lungenkrebs maximal noch ein Jahr haben, heißt es von ihrem Arzt, stirbt dann aber erst mehr als drei Jahre später. Der andere wird mit seinem Magenkrebs von den Heilkundigen als robust deklariert, der Zustand verschlechtert sich aber von jetzt auf gleich dramatisch, und der Patient ist nach wenigen Monaten tot.

Wenn Patienten deutlich länger leben als erwartet

Solche Fälle sind ärztlicher Alltag. Deswegen sollte man die Frage nach der verbleibenden Lebenszeit eigentlich gar nicht erst stellen. Die Antwort müsste lauten: "Ich weiß es nicht." Doch solche Offenheit leisten sich Ärzte ungern, weil sie dann für konfliktscheu oder unerfahren gehalten werden. Hat der Patient nicht das Recht darauf, eine professionelle Prognose zu bekommen? Nun, man kann es nicht besser auf den Punkt bringen als Jacqueline Schwartz, Oberärztin der Palliativstation der Uniklinik Düsseldorf: "Ich habe so viele Patienten erlebt, die ihren prognostizierten Todestag deutlich überlebten, dass ich bei finalen Aussagen vorsichtig bin."

Natürlich haben die Statistiker in der Medizin längst ihre Hausaufgaben gemacht. Es gibt etliche Scores, also Bewertungssysteme, die Aussagen über die aktuelle und erwartbare Lage eines (Krebs-)Patienten machen. Auf Intensivstationen sind EDV-Programme wie "Apache" oder "Riyad" im Einsatz; in der Branche heißen sie auch Todescomputer. Ihre Zuverlässigkeit wird auf etwa 80 Prozent geschätzt.

Bei Krebskranken wird stets die TNM-Klassifikation ihres Tumors erhoben. Man schaut sich alle Kriterien an: T steht für die Beschaffenheit des Tumors, N für die Frage, ob Lymphknoten befallen sind, M für mögliche (Fern-)Metastasen. Danach weiß jeder Arzt, wie die Therapie zu planen ist. Wenn also nach der umfangreichen Erstbefundung einer Patientin mit Brustkrebs der präzise TNM-Wert T3N2aM0 ermittelt wird, bedeutet das: Der Tumor ist bereits über fünf Zentimeter groß, hat aber nicht die Brustwand infiltriert (T3); die Ärzte haben sodann einen unverschieblichen Lymphknoten in der Achsel gefunden (N2a), aber keine Fernmetastasen (M0). Das ist tatsächlich eine ernste Diagnose, aber immer noch eine mit einer recht guten Behandlungsoption.

Professor Matthias Korell, Chef des Brustzentrums Rhein-Kreis am Neusser Johanna-Etienne-Krankenhaus, sagt dazu: "Diesen Tumor hätte man lieber früher gefunden. Aber dass keine Fernmetastasen vorhanden sind, ist gut. Auch in einem solchen Fall können wir den Tumor, wenn wir seine individuelle Biologie analysiert haben, über Jahre medikamentös gut kontrollieren und die Krankheit einstweilen zum Stillstand bringen." Wie lange? Und gibt es dann doch ein Rezidiv, also eine Wiederkehr? Kein Mediziner kann das beantworten; auch Korell ist skeptisch, ob Aussagen über einen Todeszeitpunkt sinnvoll sind.

Auch für Krebspatienten gilt die Verteilungskurve von Gauß

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Sicher ist, dass es genügend reale Fälle gibt, in denen Statistik Lügen gestraft wird; sie sind also mitnichten das Legenden-Lametta der Daten, mit dem die unbezähmbare Anwesenheit des Todes ungebührlich geschmückt wurde. Jeder kann sich übrigens selbst ein sehr genaues Bild von der Verteilungsunschärfe machen, die auch bei Krebspatienten gilt. Die Gauß-Normalkurve beschreibt es plastisch: Ein Großteil der Patienten einer Krebsart lebt noch fünf Jahre nach der Erstdiagnose, einige sterben aber bereits deutlich früher, andere werden steinalt damit. Oder sie sterben an den anderen Krankheiten des Lebens, die mit zunehmendem Alter immer herber eintreffen: Herz- oder Nierenschwäche, koronare Herzkrankheit, Lungenkrankheiten wie COPD oder eine Lungenentzündung, Demenz oder Schlaganfall. Es ist beileibe nicht alles Krebs, was uns tötet.

Jeder Arzt sollte also ein Abbild der legendären Kurve von Carl Friedrich Gauß in der Praxis haben. Sie kann er vorzeigen, wenn ihm die Frage "wie lange habe ich noch zu leben?" gestellt wird, und mit Hinweis auf die oft enorme Streubreite der Daten antworten: "Irgendwann in diesem Zeitfenster werden vielleicht auch Sie sterben. Aber selbst das weiß ich nicht genau. Die Medizin hat schon viel erlebt." In solchen Antworten steckt alles, was Patienten hören wollen, die diese Frage stellen: Wahrheit und Trost.

(w.g.)
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