Phantomschmerzen Linderung für die unsichtbare Qual?

Jena (RPO). Phantomschmerzen zählen zu den schwierigsten zu behandelnden Schmerzen. Die unsichtbare Qual findet ihre Ursache im Schmerzgedächtnis des zentralen Nervensystems, nachdem ein Mensch eines seiner Körperteile verloren hat. Ein Forscher-Team aus Jena weckt nun neue Hoffnung.

Fünf Fakten zu Phantomschmerzen
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Foto: ddp

Vor anderthalb Jahren hat Sandro John seinen linken Unterschenkel verloren. Trotzdem gab es in den vergangenen Monaten nur wenige Tage, an denen der 45-Jährige diesen Verlust auch wirklich wahrnahm. Immer wieder schmerzte der Unterschenkel, der doch gar nicht mehr da war. "In die Fußsohle stachen Nägel, das Schienbein wurde eingequetscht und die Zehennägel wurden immer wieder aufs Neue herausgerissen", klagt der Landwirt aus Haßleben bei Erfurt.

Er leidet unter Phantomschmerzen, die etwa jeden zweiten Patienten nach dem Verlust eines Körperteils quälen. Jenaer Mediziner wollen jetzt mit einer neuen Prothese Abhilfe schaffen. Sie ist zunächst für Menschen mit einem amputierten Unterarm gedacht.

Schmerzgedächtnis

Phantomschmerzen zählen zu den schwierigsten zu behandelnden Schmerzen, wie der Psychologie-Professor Thomas Weiß von der Friedrich-Schiller-Universität Jena erklärt. Die moderne Schmerzforschung hat erkannt, dass die anhaltende Pein der Patienten auf der Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses im zentralen Nervensystem beruht. Fehlt ein Körperteil, verlieren im Gehirn bestimmte Nervenzellen plötzlich ihre Aufgabe. Die grauen Zellen, die Informationen aus der Hand, dem Arm oder dem Bein verarbeiten, sind plötzlich arbeitslos und suchen sich neue Aufgaben.

"Sie reagieren schon wenige Stunden nach dem Verlust eines Körperteils auf Reize aus anderen Körperregionen", sagt Weiß. Besonders groß sind die Phantomschmerzen, wenn der Patient in dem betroffenen Körperteil bereits vor der Amputation Schmerzen litt - sei es durch eine Krankheit oder eben bei einem Unfall. Nach dem Unglück mit der Gartenfräse hatte Sandro John fast eine Stunde mit Schmerzen im Garten gelegen, ehe ihn der Notarzt ins künstliche Koma versetzte.

Gehirn erhält Rückmeldung

Bislang wurden die Schmerzen medikamentös behandelt. Doch häufig blieben die Symptome trotz hoher Dosen von Schmerzmedikamenten bestehen. Weiß hatte die Idee, mit einem Trick die Umstrukturierung des Gehirns nach der Amputation zu verhindern oder rückgängig zu machen. Dazu wird dem Gehirn vorgegaukelt, die Hand existiere noch. Diese Idee setzte er gemeinsam mit Unfallchirurgen des Universitätsklinikums und einem Ingenieurbüro aus Jena um.

Wichtigster Bestandteil der neuentwickelten Prothese ist eine Stimulationseinheit, die über eine Manschette mit dem Oberarmstumpf des Patienten verbunden ist. Per Funk werden die Bewegungen der Hand an ein auf dem Oberarm befestigtes dünnes Gerät gesendet. Das wandelt die Information in einen spürbaren Reiz um. Mit einem mehr oder minder sanftem Kribbeln informiert das Gerät, was die Kunsthand gerade macht. "Auf diese Weise erhält das Gehirn eine Rückmeldung von der Prothese, als wäre es die eigene Hand", sagt Weiß. Die Nerven sind wieder mit der Hand beschäftigt.

Prothese mit Sensoren

Damit geht die Jenaer Prothese weit über moderne Handprothesen hinaus, die durch Muskelspannungen gesteuert werden. Sie besitzen Sensoren, die automatisch die Griffstärke regulieren, je nachdem ob sich ein Glas oder ein Hammer gehalten werden sollen. Der Patient bekommt davon nichts mit. Die Jenaer Forscher haben ihre Prothese nun so verändert, dass sie an das Gehirn zurückmeldet, was sie gemacht hat. Genau wie bei körperlich intakten Menschen: Wenn wir eine Mandarine schälen, informiert die Hand das Gehirn, ohne dass wir davon etwas mitbekommen.

Weiß hat bislang acht Patienten über jeweils 14 Tage mit der Prothese behandelt. Alle zwei Wochen kommt ein neuer Patient hinzu. "Es wirkt, den Probanden geht es besser", sagt er. Der Phantomschmerz wird um durchschnittlich 20 Prozent reduziert. Auch Beinamputierte könnten künftig von der Erfindung der Jenaer Forscher profitieren. Denkbar sei es, den Druck der Fußsohlen zur Stimulation zu nutzen.

Diese Prothese könnte Sandro John das Leben erleichtern. Mittlerweile hat er aber seinen eigenen Weg der Therapie gefunden. Er nutzt die Beinprothese intensiv und hat sie als zweites Bein akzeptiert. Auf ihr ist er mit seiner Schafzucht ständig im Dorf unterwegs. Manchmal kann er für kurze Zeit sogar vergessen, dass ihm ein Bein fehlt.

(apd/kpl)
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