Todesfall in Berlin Warum die Impfung gegen Masern lebenswichtig ist

Düsseldorf · Das an einer Infektion mit dem Masernvirus gestorbene Kind in Berlin könnte noch leben. Die Forderung nach einer Impfpflicht in Deutschland wird in diesen Tagen lauter. In vielen anderen Ländern wird darüber nicht diskutiert – in den USA sind Masern fast ausgerottet.

 Vor allem Kleinkinder und junge Erwachsene sind gefährdet, sich an Masern anzustecken. Die Krankheit wird in 95 Prozent der Fälle übertragen, wenn ein Erkrankter und ein nicht-geimpfte Person aufeinander treffen.

Vor allem Kleinkinder und junge Erwachsene sind gefährdet, sich an Masern anzustecken. Die Krankheit wird in 95 Prozent der Fälle übertragen, wenn ein Erkrankter und ein nicht-geimpfte Person aufeinander treffen.

Foto: Shutterstock.com/ yang na

Das an einer Infektion mit dem Masernvirus gestorbene Kind in Berlin könnte noch leben. Die Forderung nach einer Impfpflicht in Deutschland wird in diesen Tagen lauter. In vielen anderen Ländern wird darüber nicht diskutiert — in den USA sind Masern fast ausgerottet.

Robuste Viren sehen anders aus. Dieses hier ist ein Hänfling, der das Dunkel liebt. Mit seiner dünnen Hülle hasst das Virus Licht, Luft, Hitze, Reinigungslösungen und Desinfektionsmittel. Aber die Zeit seiner Aktivität nutzt es wie ein Berserker. Von allen Keimen besitzt das Masernvirus den höchsten Ansteckungsindex: Von 100 nicht geimpften Leuten, die ein Masernkranker anhustet oder anniest, infizieren sich 95. Beim Streptokokken-Typ, der Scharlach auslöst, liegt der Index bei 50, bei Röteln bei 15. Deshalb sollte man das Masernvirus und die Gefahr der Tröpfcheninfektion kennen, fürchten und per Impfung unschädlich machen.

Fatales Desinteresse Die Teilnahmslosigkeit der Eltern und die nimmermüde Propaganda der Impfgegner haben das Aufmerksamkeitsniveau auf fatale Weise gedimmt. In diesem Klima kommt es wie jetzt in Berlin zu lokalen Masern-Epidemien, die plötzlich aufflackern, Schulen zur Schließung zwingen und Kinder das Leben kosten. Das Desinteresse wird dadurch begünstigt, dass die meisten infizierten Kinder die Krankheit mit ihren typischen Symptomen ohne Komplikation durchlaufen — zuerst melden sich die Zeichen eines grippalen Infekts, danach tritt der typische Ausschlag auf. Ein Teil aber entwickelt eine Bronchitis, eine Entzündung der Lunge oder des Gehirns. Im schlimmsten Fall kann es nach einer Infektion zur "subakuten sklerosierenden Panenzephalitis" (SSPE) kommen, einer fulminanten Komplikation im zentralen Nervensystem. Man rechnet zehn SSPE-Fälle auf 100 000 Masern-Infektionen; stets verlaufen sie tödlich.

Unter der Nachweisgrenze Berechnungen der Weltgesundheitsbehörde WHO zeigen: Impfen beugt Masern flächendeckend vor. In den USA liegen die Infektionszahlen dank konsequenter Impfprogramme unter der Nachweisgrenze. Beispielhaft funktioniert dort das System der Herdenimmunität. Das bedeutet: Menschen, die noch nicht geimpft sind oder sich nicht impfen lassen können, werden durch die Geimpften in ihrer Umgebung geschützt. Masernausbrüche lassen sich sehr präzise verhindern, wenn 95 Prozent der Bevölkerung Immunität erworben haben — also vor allem geimpft sind.

In stillen Momenten träumen westdeutsche Mediziner von der DDR. Dort gab es eine Impfpflicht, der kaum ein Kind entkam. In der späten DDR waren die Masern unbekannt. Jetzt lernen die früheren Ossis in den neuen Bundesländern die Krankheit staunend kennen. Es könnte sein, dass sie Masern fürchten lernen. Längst wird Gesundheitsvorsorge ins Belieben der Eltern gestellt — mit dem Ergebnis, dass das Grundlagenwissen dünner wird und die Infektionszahlen steigen. Viele Eltern vertrauen dem irreführenden Slogan: Was meine Kinder nicht umbringt, macht sie immun. Da kann man nur sagen: Die Kinder haben Glück gehabt. Eine Impfpflicht gibt es bisher nicht. Das Infektionsschutzgesetz gibt dem Bund aber die Möglichkeit, sie bei gefährlichen Viren einzuführen. Dieser Fall liege bei Masern vor, glaubt seit Jahren der Verband der Kinder- und Jugendärzte.

Die Wurzeln der Impfmüdigkeit Die Impfmüdigkeit, deren Folgen nun bei Kindern und Erwachsenen als potenziellen Überträgern der Erreger zu Buche schlägt, hat drei besonders tiefe Wurzeln. Erstens sind viele Infektionskrankheiten dank jahrzehntelanger Impfpraxis so gut wie ausgestorben, weswegen Ungeimpfte hierzulande nur schwerlich etwa von den Erregern der Diphtherie oder der Kinderlähmung überwältigt werden. Diese Wahrscheinlichkeit des Schutzes verringert sich allerdings kontinuierlich, je weniger geimpft wird.

Zweitens hat die Hysterie um gelegentlich auftretende Impffolgen einen kaum kontrollierbaren Lärmpegel erreicht. Kein Infektionsmediziner bestreitet, dass Impfungen in seltenen Fällen Nebenwirkungen ähnlich wie Medikamente haben. Die dramatisierende Einzelfallprosa, die auf impffeindlichen Internet-Seiten über reale oder angebliche Impfschäden nachzulesen ist, istallerdings grotesk und entbehrt fast immer der Grundlage.

Drittens monieren Impfgegner, dass die Impfung keinen 100-prozentigen Schutz biete (was nie ein Mediziner behauptet hat). Statistisch ist aber die Komplikationsrate vieler Infektionskrankheiten wie etwa Masern nach einem Ausbruch um ein Vielfaches höher als die Nebenwirkungsrate von Impfungen.

Fall für den Staatsanwalt Die Folgen jedweder Leichtfertigkeit oder Müdigkeit beim Impfen wird man möglicherweise demnächst bei den gealterten Teilnehmern jener "Masernpartys" sehen, bei denen vor einigen Jahren ungeimpfte auf masernkranke Kinder trafen. Für diese gefährlichen Trips in die Unkalkulierbarkeit der Biologie, bei denen eine Infektion angeblich die nützliche Reifung des Immunsystems einleitete, interessierten sich von Amts wegen die Staatsanwälte. Es handelte sich weniger um einen Beitrag zur Gesundheit als um vorsätzliche Körperverletzung.

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