Propofol Das Narkosemittel, das erotische Träume macht

Köln/Hannover · Propofol ist weltweit das am häufigsten genutzte Narkosemittel. Innerhalb weniger Sekunden schickt es Patienten in süße, auch erotische Träume. Für Ärzte kann das unerwünschte rechtliche Folgen nach sich ziehen, wenn Behandelte nach der Narkose Traum und Wirklichkeit verwechseln.

 Vermutlich wirkt das Narkosemittel Propofol auf das Lustzentrum im Gehirn und sorgt so für schöne Träume.

Vermutlich wirkt das Narkosemittel Propofol auf das Lustzentrum im Gehirn und sorgt so für schöne Träume.

Foto: Shutterstock/graphicsdunia4you

Eine Operation wird zum Horrortrip, weil nach dem Erwachen das ungute Gefühl hochkommt, narkotisiert und wehrlos daliegend zum Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden zu sein. Wie im Nebel scheinen Erinnerungsfetzen daran aufzublitzen, wie der Anästhesist den Arm der Patientin zu sich herüberzieht und ihn an seinem Penis reibt. Je länger sie darüber nachdenkt, desto deutlicher kommen diese Bilder ins Bewusstsein zurück. Abgestoßen von den Erinnerungen daran teilt sich die Betroffene Angehörigen mit und entschließt sich, rechtliche Schritte gegen den Mediziner einzuleiten, der sie narkotisiert hat.

So landet der Fall bei Dr. Sebastian Almer. Er ist Medizinrechtler in München und mit den Hintergründen vertraut, die zu solchen Anzeigen führen. Denn das unter Medizinern für seine breite Einsatzmöglichkeit, die geringen Nebenwirkungen und schnelle Wirkung beliebte Narkosemittel Propofol kann besondere Wirkungsweisen zeigen: Es enthemmt sexuell.

Wenn sich Traum und Wirklichkeit vermischen

Das kann heikel werden: Im Zuge notwendiger Operationen wird "insbesondere im Zusammenhang mit der Gabe von Propofol" darauf hingewiesen, dass es zu sexuellen Phantasien kommt, die ähnlich wie bei der Gabe von sogenannten Benzodiazepinen in "logischer Abfolge sehr lebhaft empfunden und später - auch vor Gericht - als authentische Ereignisse überzeugend dargestellt wurden", schreibt die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft schon 1998 im Deutschen Ärzteblatt.

Auch eine Fachinformation zu diesem Arzneimittel nennt unter möglichen Nebenwirkungen die euphorisirende und aphrodisierende Wirkung. Alles also nur ein Traum: Die Fehldeutungen von Berührungen im OP oder auch Aufwachraum aber können Medizinern und Pflegepersonal große Probleme machen.

In Almers Fall ließen sich Traum und Wirklichkeit wieder voneinander trennen: Während die Patientin in seinem Fall felsenfest und auch glaubhaft schildert, was sich im Operationssaal zugetragen haben soll, zeigt sich, dass ihr das Narkosemittel einen unangenehmen Streich gespielt hat. Die Patientin hatte im Zuge des Monitorings einen Fingerclip angelegt bekommen, der den Sauerstoffgehalt des Blutes während des Eingriffs überwacht. Dazu hatte der Mediziner den Arm der Frau etwas zu sich hinübergezogen und das Gerät an den Finger geklippt.

Rechtliche Folgen nach Schmerzmittelgabe

Schwierige Situationen, die später zu Anzeigen und Ermittlungen wegen des Missbrauchs von Schutzbefohlenen nach sich ziehen können, können auch im Aufwachraum bei der Gabe von Schmerzzäpfchen entstehen. Aus diesem Grund raten Juristen und ärztliche Fachgesellschaften dazu, in Zusammenhang mit der Gabe von Propofol niemals mit dem Patienten alleine zu bleiben, sondern sich Kollegen hinzuzuholen. "In Kliniken ist das meist kein großes Problem, schwieriger wird das im Bereich der ambulanten Operation", sagt der Münchener Jurist. Denn dort gibt es weniger Personal. Nach einer Darmspiegelung, die unter Wirkung des Narkosemittels gemacht wird, kann nicht immer eine zweite Fachkraft dabei bleiben.

Die Nebenwirkung also ist erkannt, das was sie herbeiführt jedoch noch unklar. Bis heute ist die Forschung nicht in der Lage, zweifelsfrei zu erklären, was nach der Gabe von Propofol im Hirn eigentlich passiert. "Möglicherweise werden neuronale Netzwerke angesprochen, die auch bei Vergnügen oder bei lusterfüllten Tätigkeiten angesprochen werden", sagt Prof. Wolfgang Koppert, Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie der Medizinischen Hochschule Hannover.

"Wir gehen davon aus, dass dieses Narkosemittel bestimmte Bahnen zwischen Vorder- und Hinterhirn unterbricht", sagt Prof. Bernd Böttiger, Chef für Anästhesiologie und Intensivmedizin an der Kölner Uniklinik. Je mehr man gebe, desto stärker sei diese Wirkung. Es werden mehr Areale im Hirn lahm gelegt, die zu einem neuronalen Feuerwerk andernorts zu führen scheinen. Das allerdings nicht immer. Wer während der Narkose von süßen Träumen umfangen ist und wer nicht, das weiß man zwar nicht immer erst nachher, weil es zum Beispiel bei Männern zu Erektionen in der Narkose kommen kann, doch oft erzählen Patienten auch im Nachhinein wie angenehm sie die Zeit ohne Bewusstsein erlebt haben.

Schreiender Patient schockt Mediziner

Zu Verwirrung führte das in einem Fall, an den sich der Kölner Chefarzt aus seiner Zeit als Oberarzt an einer anderen Klinik erinnert. Nach einer Herzoperation leitet der junge Anästhesist das Erwachen des Patienten ein. "Plötzlich beginnt der Patient wie am Spieß zu schreien." Überrascht und verunsichert fragt der Mediziner ihn danach, ob er Schmerzen habe, das OP-Team ist in Aufregung, auch der Chefarzt kommt hinzu. Doch niemand kann den Mann zunächst zum Sprechen bringen. Der aber versetzte alle in Erstaunen, nachdem er sich beruhigt hat. "Er habe vorhin den schönsten Traum seines Lebens gehabt und empfand es als unverschämt, dass man ihn dort herausgerissen hatte", erinnert sich Prof. Böttiger.

In seltenen Fällen führt das so weit, dass sich Patienten erneut eine Gabe Propofol wünschen, wie die Mediziner einhellig berichten. Als prominenter Fall machte Popstar Michael Jackson Schlagzeilen, als er 2009 unerwartet an einer Überdosis dieses Betäubungsmittels starb. Er ließ sich das immer intravenös verabreichte Mittel in so großer Menge zum Einschlafen injizieren, dass sein Leibarzt schließlich mehr als 15 Liter davon bestellt haben soll.

Die Schattenseite — Suchtgefahr

Solche Mengen wird hierzulande kaum jemand horten, dennoch ist auch unter Medizinern das Suchtpotential des Narkosemittels bekannt und ebenso der damit verbundene Missbrauch unter Klinikpersonal. Der wird nicht nur durch die stimmungsaufhellende und erotisierende Wirkung gespeist, sondern auch durch seine entspannende und beruhigende.

Propofol-Junkies nehmen suchtvernebelt die Gefahr in Kauf, die ein Missbrauch immer mit sich bringt: Beim Einsatz außerhalb des Operationssaals fehlt der doppelte Boden, sobald die Injektionsnadel sitzt. Denn Propofol darf zwar auch von medizinisch in besonderer Weise geschultem Fachpersonal verabreicht werden, allerdings nur unter Einhaltung gewisser Sicherheitsstandards. Dazu zählen "die Möglichkeit zur Beatmung, das Vorhandensein von kreislaufstabilisierenden Mitteln und solcher, die die Narkose rückgängig machen, sowie ein Defribillator. Nur so hat man potentiell tödliche Wirkungen wie Atemstillstand, abfallender Blutdruck und eine sinkende Herzfrequenz, zu denen es potentiell unter anderem durch Überdosierung kommen kann, unter Kontrolle.

Wegen dieser Wirkung wird das Mittel bei Herzpatienten in der Regel nicht gegeben. Bei ambulanten Operationen und Menschen ohne Vorerkrankungen des Herz-Kreislaufsystems schätzt Prof. Koppert hingegen die Häufigkeit des Einsatzes auf über 90 Prozent.

Ebenfalls negativ trat das sonst als besonders nebenwirkungsarm bekannte Narkotikum in Zusammenhang mit der Suche nach neuen Giftcocktails für Hinrichtungen in den USA in Erscheinung. Nachdem europäische Pharmafirmen den Vereinigten Staaten kein Gift mehr für diese liefern wollten, überlegte man in Missouri auf das Betäubungsmittel Propofol umzusteigen. Der deutsche Hersteller Fresenius Kabi reagierte darauf und schränkte den Vertrieb durch die Maßgabe ein, dass das Mittel nur noch für garantiert lebenserhaltende Zwecke eingesetzt werden darf.

Warum Propofol eine Revolution bleibt

Genau so wird es hierzulande gehandhabt: Von der Kurznarkose, die innerhalb von 30 Sekunden eingeleitet ist, bis hin zum künstlichen Koma ist Propofol oft mit im Spiel. Und das nicht ohne Grund, wie der Hannoveraner Chef-Anästhesist Koppert erläutert: "In den 70er Jahren war dieses Mittel eine Revolution, weil es das erste Medikament ist, das man zur Narkose über Stunden geben kann." Danach erholt sich der Patient schnell wieder und hat häufig nicht mit Übelkeit oder Verwirrtheit zu kämpfen, wie sie nach anderen Narkosen sonst oft auftreten. Und wer bitte möchte schon was gegen hübsche Träume haben?

(wat)
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