Kuriosität mit hoher Dunkelziffer Seitenverkehrte Organe — das kann dahinter stecken

Münster/Bochum · Seitenverkehrte Organe sind eine Kuriosität. Manchmal sind sie jedoch mehr als das. Die verkehrte Lage von Herz, Milz und Co kann Zeichen einer schweren Erbkrankheit sein, deren Dunkelziffer laut Expertenmeinung hoch ist.

Ist beim Abhören das Herz auf der falschen Seite zu hören, kann das ein Hinweis auf die Erbkrankheit PCD sein.

Ist beim Abhören das Herz auf der falschen Seite zu hören, kann das ein Hinweis auf die Erbkrankheit PCD sein.

Foto: Shutterstock/ScofieldZa

Schmerzen im rechten Unterbauch sind eines der typischen Anzeichen für eine Blinddarmentzündung. Doch bei manchen Menschen schmerzt es auf der Seite, auf der der Wurmfortsatz normalerweise gar nicht zu finden ist.

Situs inversus oder auch Katagener-Syndrom heißt das medizinische Phänomen, bei dem die Organe nicht dort liegen, wo sie bei den meisten Menschen anzutreffen sind. "Einer unter 10.000 weist diese medizinische Besonderheit auf", sagt Thomas Nüßlein, Chefarzt der Kinderklinik am Gemeinschaftsklinikum Mittelrhein in Koblenz.

Andere Schätzungen gehen davon aus, dass einer unter 20.000 Menschen betroffen ist. In der Hälfte der Fälle leiden die Betroffenen zudem unter einer Erbkrankheit, die schwere Atemwegsbeschwerden verursacht und unbehandelt zum Tod führen kann.

Seitenverkehrte Organe — Verwirrung und Hinweis

Die kuriose Seitenverkehrung an sich gilt aus medizinischer Sicht als unproblematisch. Bei den Betroffenen sind die Organe nicht nur seitenverkehrt angeordnet, sondern auch spiegelbildlich gebaut. Das kann selbst unter Ärzten Verwirrung stiften. Als Zufallsbefund fällt die abnorme Organanordnung manchmal bei Untersuchungen auf. Der Arzt findet dann zum Beispiel beim Abhören des Herzens keine Herztöne, weil das Organ beim Patienten buchstäblich am rechten Fleck schlägt.

In manchen Fällen hingegen kann die spiegelbildliche Vertauschung der entscheidende Hinweis auf die ernsthafte Erbkrankheit "Primäre Ciliäre Dyskinesie" (PCD) sein. "Kinder, die darunter leiden, haben oft direkt nach der Geburt ein Atemproblem, das als Neugeborenen-Lungenentzündung fehlgedeutet wird", sagt Heymut Omran, Leiter der Kinderklinik am Uniklinikum Münster. Er gilt als Spezialist auf dem Gebiet dieser seltenen Erkrankung. Rund die Hälfte der Menschen mit spiegelverkehrten Organen haben PCD.

Wie zeigt sich PCD?

"Typisch sind für diese Kinder ein immerwährender feuchter Husten, eine ständig laufende Nase und Mittelohrentzündungen am laufenden Band", sagt Omran. Oft treibt die ungeklärte Ursache für die fortlaufenden Infekte die Eltern der betroffenen Kinder in die Verzweiflung.

Reiner Pier, Vorsitzender der Selbsthilfe-Gruppe für PCD und Kartagener-Syndrom kennt diese Not. "Mein Sohn hatte ständig eine Schniefnase und hustete. Weil er schlecht hörte, bekam er Paukenröhrchen." Immer wieder saßen er und seine Frau mit dem Kind in verschiedenen Wartezimmern, bis die nimmer enden wollenden Infekte des Kindes einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt im Uniklinikum aufhorchen ließen. "Ihm kam das alles seltsam vor. Über ein spezielles Verfahren ermittelte man den nasalen Stickstoffwert (NO). Er liegt typischerweise bei PCD-Patienten weit unterhalb der 100 Prozent", erklärt er. Als seine Familie die Diagnose bekam, war sein Sohn acht Jahre alt.

Bei dauerndem Husten an PCD denken

Nicht immer finden die Betroffenen und ihre Angehörigen im Kindesalter den Weg zu Spezialisten. "Im Jahr sehe ich fünf bis zehn Fälle, bei denen PCD erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wird", sagt Omran und erzählt von einem Allgemeinmediziner aus der Schweiz, der erst im Alter von 65 Jahren die richtige Diagnose erhalten hat.

Das legt unter den wenigen Experten, die sich hierzulande auf die Generkrankung verstehen, den Verdacht nahe, dass die Dunkelziffer der Erkrankung viel höher ist. "Möglicherweise ist nicht einmal die Hälfte der Patienten diagnostiziert", schätzt Cordula Koerner-Rettberg, Leiterin der Pneumologischen Abteilung an der Kinderklinik der Uni Bochum. Denn nicht alle Verläufe sind schwer. Ein weltweites PCD-Register, das 2015 von Omran in Münster initiiert wurde, soll helfen in einigen Jahren klarer zu sehen.

Denn trotz der Fortschritte in der Erforschung der seltenen Erkrankung konnten viele Aspekte — wie die unterschiedliche Symptomatik bei Patienten und die Auswirkungen einzelner therapeutischer Interventionen — noch nicht vollständig geklärt werden. Derzeit sind 30 auslösende Gene bekannt. Tragen Vater und Mutter gleichermaßen den Genfehler in sich und geben ihn weiter, tritt er beim Kind auf, obwohl seine Eltern gesund sind. Dieser führt dazu, dass sich die Zilien, kleine Flimmerhärchen auf der Zelloberfläche, falsch oder gar nicht bewegen.

Warum manche Menschen vertauschte Organe haben

"Schon in den ersten Wochen der menschlichen Entwicklung entscheidet ein bestimmtes Zilium über den Flüssigkeitsstrom um den Embryo herum. Der synchronisierte Schlag seiner Härchen legt die Organverteilung im Körper fest. Ist er gestört, kommt es zur zufallsverteilten Organdrehung", erklärt die Bochumer Pneumologin. In der Hälfte der Fälle erfolgt diese zwar per Zufall korrekt, doch zeigt sich der genetische Defekt dann später an den Zilien der Epithelzellen, die die Atemwege auskleiden.

Bei PCD-Patienten sind zudem die Flimmerhärchen in den Atemwegen, Nasennebenhöhlen und dem Mittelohr unbeweglich. Dadurch sammelt sich Schleim in diesen Organen an, der nicht abtransportiert werden kann. Es entstehen irreversible, sackförmige Bronchienweiterungen, die langfristig auch zu Lungenversagen führen können. "Je nachdem, zu welchem Zeitpunkt die Krankheit diagnostiziert wird, kann eine Lungentransplantation notwendig werden", sagt Omran. Jüngst hat Thomas Nüßlein in Koblenz zwei Flüchtlinge versorgt, die bislang ohne Behandlung waren. "Sie werden wahrscheinlich die nächsten fünf bis zehn Jahre nicht überleben", sagt Omran.

Trotz solch schlimmern Verläufe sind die Prognosen für die unheilbare Krankheit dennoch insgesamt gut. Die Betroffenen haben je nach Ausprägung und dem Zeitpunkt der Diagnose durch antibiotische und physiotherapeutische Behandlung sowie Inhalationen eine grundsätzlich normale Lebenserwartung.

"Wichtig ist es, das festsitzende Sekret zu mobilisieren", sagt Heymut Omran. Allein durch eine veränderte Behandlung konnte man schon Patienten, die auf der Liste für eine Lungentransplantation standen, vor dem schweren Eingriff bewahren. Sie konnten mit ihrer eignen Lunge weiterleben.

(wat)
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