Interview "Vorsorge ist nicht immer sinnvoll"

Düsseldorf · Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln, moniert die unzureichende Information, welche Vorsorge- und Früherkennungsprogramme wertvoll und welche unsinnig sind.

Fehltage: Das sind die häufigsten Krankheiten
Infos

Fehltage: Das sind die häufigsten Krankheiten

Infos
Foto: TK

Früherkennung ist ein Zentralbegriff unseres Gesundheitswesens. Darüber nachgedacht, ob jede Früherkennung sinnvoll ist, wird aber nur selten.

Windeler So ist es. Wenn man meint, etwas früherkennen zu wollen, hat man immer auch im Kopf, dass man nach einer unangenehmen Diagnose etwas tun kann. Die Idee ist ja: Man erkennt etwas früh und kann dann etwas Besseres tun, als wenn man etwas spät erkennt. Es ist aber keineswegs selbstverständlich, dass das so ist.

Wo zum Beispiel nicht?

Windeler Studien haben gezeigt, dass etwa bei Lungenkrebs oder Eierstockkrebs Früherkennungsuntersuchungen nicht empfohlen werden können, weil Menschen, deren Tumor früh entdeckt wurde, später nicht besser, sondern teilweise schlechter dran waren. Dafür gibt es verschiedene Gründe, etwa die Biologie des Tumors, vor allem aber das Risiko der Behandlungen.

Es gibt Bereiche, in denen gut belegt ist, dass Früherkennung sinnvoll ist.

Windeler Ja, bei Darmkrebs sterben weniger Menschen, wenn der Tumor früh erkannt wird. Der Vorteil ist, dass man bei einer Darmspiegelung bereits Polypen erkennen und entfernen kann. Fast alle Karzinome entstehen aus solchen Polypen, und wenn man die früh entfernt, kann Krebs vermieden werden. Eine ähnliche Möglichkeit gibt es beim Gebärmutterhalskrebs, wenn man Vorstufen entdeckt, die das Potenzial für eine Krebsentwicklung tragen — auch die lassen sich relativ unkompliziert entfernen.

Ist das immer so eindeutig?

Windeler Leider nein. Beim Hautkrebs halten viele eine Früherkennung für plausibel, überzeugende Studiendaten gibt es aber nicht.Die allermeisten Muttermale führen nicht zu einem Krebs. Man entfernt sie vorsorglich, aber überflüssigerweise. In diesem Fall könnte man sagen, das ist ja nicht so schlimm, man macht eine lokale Betäubung, das ist nicht gefährlich.

Was gilt für Brustkrebs?

Windeler Beim Brustkrebs, wo Früherkennung am besten untersucht ist, sind sich viele Experten einig, dass bei früher Erkennung weniger Frauen an Brustkrebs versterben. Aber es gibt, neuerdings aus Schweden, auch skeptische Ergebnisse.

Beim Mammografie-Screening gibt es das Problem der Übertherapie: Frauen, die aus einem Knoten nie Brustkrebs bekommen würden, werden trotzdem aggressiv behandelt.

Windeler Dieses Problem gibt es immer, bei Brust- und bei Hautkrebs, erst recht beim Prostata-Karzinom. Problematisch ist es, wenn früh erkannte Tumore aggressiv behandelt werden, der Patient oder die Patientin sie aber gar nicht erlebt hätte, wenn man nicht danach gesucht hätte. Leider weiß man das natürlich vorher nicht. Solche Menschen erleben nur die Begleit- und Folgeerscheinungen der Therapie, die eigentlich überflüssig war. Solche negativen Folgen von Früherkennung werden oft übersehen.

Kann Früherkennung auch schaden?

Windeler Es gibt auch Beispiele für Aktionismus, der nicht durch große, aussagefähige Studien belegt ist. In Deutschland sollte in den 1980ern ein Screening für ein- bis zweijährige Kinder nach einem bestimmten Tumor, dem Neuroblastom, eingeführt werden. Was man nicht wusste: Diese Tumore bilden sich oft von allein zurück. Die verwendete Therapie war oft überflüssig. Später hat eine Studie herausgefunden, dass dieses Screening den Kinder nicht etwa geholfen, sondern geschadet hätte.

Lebt man länger mit Früherkennung?

Windeler Dafür gibt es keine Belege, jedenfalls wäre der Effekt sehr klein. Wenn Früherkennung erfolgreich ist, dann bewahrt sie einige vor einem frühzeitigen Tod am Tumor. Eine typische Rechnung: Von 1000 Frauen sterben ohne Früherkennung innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren etwa vier Frauen an Brustkrebs. Wenn 1000 Frauen regelmäßig am Mammografie-Screening teilnehmen, sterben drei Frauen an Brustkrebs. Dieser Unterschied macht in der Gesamtsterblichkeit aber nicht viel aus.

Es gibt viele Menschen mit Krebsdiagnose, die sagen: Wäre ich doch zur Früherkennung gegangen!

Windeler Mit Früherkennung hätten sie die Krebsdiagnose auch bekommen, nur früher. Bei einer der vier Brustkrebsfrauen aus dem Beispiel wäre der Gedanke berechtigt, bei den anderen Dreien nicht. Und es gibt das Gegenteil: Männer, die nach einer Prostata-Operation inkontinent sind und sagen: Wäre ich doch besser nicht zur Früherkennung gegangen. Früherkennung ist in ihrem Für und Wider eine schwierige Abwägung.

Gilt Ihre skeptische Einstellung nur für die Krankheit Krebs?

Windeler Nein, es gibt hochspezielle Untersuchungen, vielleicht sogar Ganzkörper-MRT oder -CT, bei denen müssen wir eindeutig sagen: Es gibt gar keine Daten, dass das als Früherkennung sinnvoll ist. Im Gegenteil: Man findet bei diesen Ganzkörper-Untersuchungen — von der Strahlenbelastung beim CT mal ganz abgesehen — immer eine hohe Zahl anatomischer Normabweichungen oder sogar pathologischer Befunde, von denen kein Arzt sagen kann, ob nun eine Krankheit vorliegt oder nicht. Von 100 Personen, die in ein MRT oder CT hineingehen, kommen 40 bis 50 mit auffälligen Befunden heraus, ohne dass jemand sagen könnte, was diese Befunde bedeuten. Solche Untersuchungen, die als Prävention verkauft werden, sind eigentlich verantwortungslos.

Was genau ist das Problem eines unerwarteten und unklaren Befunds?

Windeler Allein, dass er besteht. Jeder wird in so einer Situation nervös und ängstlich, schon das Abwarten kann einen doch kirre machen. Dann müssen Folgeuntersuchungen gemacht werden. Die sind lästig, unangenehm, vielleicht sogar gefährlich. Ein Krankheitsbefund ist erst einmal — weil es sich um eine negative Botschaft handelt — ein Schaden für mich. Zudem wissen wir oft nicht, ob eine frühe Therapie überhaupt besser ist als eine spätere Therapie.

Ein Check-up-Test ist ein trojanisches Pferd, das einem etwas einbrockt, mit dem nicht zu rechnen war?

Windeler Ja, Ärzte müssen das wissen und damit rechnen. Man muss sich immer die Frage stellen: Warum mache ich einen Test? Antwort: Ich will bei einem Fund etwas tun können, was ich ohne Test nicht tun könnte. Wenn ich hinterher gar nichts tun will, brauche ich auch den Test nicht zu machen. Und wenn man hinterher nichts tun kann, sollte man sich auch fragen, warum man den Test macht.

Wie ist das bei Alzheimer? Es gibt Menschen, die sich bei beginnenden Vergesslichkeitserscheinungen fragen, ob sie Alzheimer haben oder nicht. Das zu wissen, ist doch legitim.

Windeler Auch hier gilt: Diagnostik macht nur Sinn, wenn ich Konsequenzen ziehen kann. Bei Alzheimer gibt es keine wirklich überzeugenden Behandlungen, im Frühstadium sowieso nicht. Man kann natürlich wissen wollen, ob man sein Leben ordnen sollte, sein Haus überschreiben, Verfügungen treffen und so weiter. Ich habe Respekt vor solchen Entscheidungen. Dafür sollte man dann dafür zuverlässige Tests haben. Aber jeder sollte wissen, was ihm das Testergebnis sagt — und er sollte dann kompetent begleitet werden.

Nutzen Sie selbst Früherkennung?

Windeler Nur die wenigen, die nachgewiesen sinnvoll sind. Ansonsten gehe ich zum Arzt, wenn ich krank bin und nicht, wenn ich mich gesund fühle. Die Vorstellung, dass der Mensch ein Auto sei, das dauernd zum TÜV muss, ist mir fremd.

Was hilft bei der Entscheidung?

Windeler Man sollte sich vorher gründlich informieren und natürlich seinen Arzt fragen: Was kann dabei herauskommen, welche Konsequenzen hat das für mich? Wir haben auf www.gesundheitsinformation.de Informationen zusammengestellt. Aufgrund guter Informationen kann der eine zu einer Entscheidung für, der andere zur Entscheidung gegen Früherkennung kommen. Ein schlechtes Gewissen müssen beide nicht haben.

(RP/anch)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort