58.000 Tote jährlich durch falsche Medikamente Wie Ärzte ihre Patienten gefährden

Witten/Herdecke/Heidelberg · Jährlich sterben rund 58.000 Menschen in deutschen Krankenhäusern an den Folgen unerwünschter Medikamentenwirkungen. Rund die Hälfte der Fälle geht auf falsch verschrieben Medikamente zurück. Lesen Sie hier, wie Sie sich schützen können.

Der Fortschrittsglaube in Deutschland ist hoch. So hoch, dass viele Menschen ihn mit ihrem Leben bezahlen. Sie nehmen Medikamente ein, von denen sie glauben, dass sie ihnen gesundheitlich helfen oder ihr Leben verlängern. Doch das Gegenteil ist der Fall. Magen-Darm-Blutungen, Leberversagen oder Herzinfarkt als Nebenwirkung — denn die eingenommenen Präparate treten miteinander in gefährliche Wechselwirkung. Studien gehen davon aus, dass zwischen 25.000 und 58.000 Patienten jedes Jahr in Folge dessen sterben.

So kritisiert Professor Andreas Sönnichsen Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Witten/Herdecke: "Fast ein Drittel der Medikamente werden ohne Evidenzbasis verschrieben. Das heißt, dass es keinen Wissenschaftlichen Nachweis für den Nutzen gibt". Eine Studie an der 169 Patienten teilnahmen, die er gerade abgeschlossen hat, bringen schockierende Zahlen ans Licht: Über 90 Prozent der Patienten bekommen mindestens ein Arzneimittel unbegründet. 37 Prozent der über 65-Jährigen nehmen Medikamente ein, die für ältere Menschen nicht geeignet sind.

Zehn Prozent der Notaufnahmen wegen Wechselwirkungen

Eine Studie, die vor fünf Jahren am Salzburger Klinikum gemacht wurde, zeigt mit welch verheerenden Auswirkungen: Von 500 Patienten, wurden zehn Prozent nur deshalb in kritischem Gesundheitszustand in die dortige Notfallaufnahme eingeliefert, weil ihre Medikamente gefährliche Wechselwirkungen herbeigeführt hatten. "Studien aus den Niederlanden und anderen Ländern kommen zu ähnlichen Ergebnissen", sagt der Experte für Medikationssicherheit aus Witten/Herdecke. Der Pillencocktail, den manche ihrer Gesundheit zumuten, um sie eigentlich zu verbessern, hat im günstigsten Fall reversible Folgen für die Patientengesundheit. Doch mitunter mündet er in Krankenhausaufenthalten oder sogar mit dem Tod.

Alles andere als ein Einzelfall ist, dass Patienten mit einer unüberschaubaren Liste an Arzneimitteln aus fachärztlichen Praxen oder Kliniken entlassen werden. "Der durchschnittliche Patient verlässt heute mit fünf Medikamenten unsere Klinik. Daraus ergeben sich bereits 26 verschiedene Kombinationen, die sich gegenseitig beeinflussen können", sagt Prof. Walter Haefeli vom Universitätsklinikum Heidelberg. "Der Hausarzt soll die Präparate dann neu verschreiben. Wie aber soll er überblicken, welche der vielleicht 17 Arzneimittel notwendig sind?", fragt Prof. Andreas Sönnichsen kritisch. Bei seiner aktuellen Studie stieß er auf einen Patienten, bei dem es sogar 20 verschiedene Mittel waren.

Das sind oft unnötig verschriebene Mittel

Er beklagt eine solch gefährliche Überbehandlung. Vor allem Betablocker, Cholesterinsenker, Antidepressiva, Angstlöser und bestimmte Diabetesmittel würden häufig unbegründet verschrieben. Am Beispiel der Cholesterinsenker verdeutlicht der Wittener Lehrstuhlinhaber das Problem: " Vielen Menschen wird ein Lipidsenker verschrieben, um das Risiko für einen Herzinfarkt zu senken. Bei 100 Patienten verhindert man dadurch innerhalb von zehn Jahren fünf Herzinfarkte. 75 von ihnen hätten statistisch bewertet ohnehin keinen bekommen und 20 von ihnen bekommen ihn trotz der Behandlung mit dem Medikament." Während also einen Hand voll Menschen vor dem Herzinfarkt bewahrt wurde, haben aber der Großteil der Patienten das Medikament mit allen seinen Nebenwirkungen und negativen Folgen eingenommen.

Das liegt daran, dass in Deutschland prognosehemmend verschrieben wird. Erhöht sich durch einen Laborwert die Wahrscheinlichkeit für eine Erkrankung, zücken die meisten Ärzte den Rezeptblock. Das mag so lange Sinn machen, solange nicht fünf und mehr Medikamente unkontrolliert im Patienten gegeneinander wirken und ganz andere Erkrankungen auslösen als die, vor denen man sie bewahren wollte.

Internetbasiertes Programm soll in Zukunft helfen

"Die Hausärzte der betroffenen Patienten fühlen sich überfordert. Wie sollen sie die langen Medikamentenlisten kritisch durchforsten?", fragt sich der Wissenschaftler, der selbst Allgemeinmediziner und Internist ist. Mit einer weiteren durch EU-Mittel geförderten Studie, wird er in den nächsten zwei Jahren ein internetgestütztes Programm für Ärzte entwickeln, das vor allem bei der Behandlung chronisch Kranker und älterer Patienten Einsatz finden soll. Es soll zu Beginn rund 50 Substanzen und Substanzgruppen führen. Geben Mediziner weitere Informationen wie zum Beispiel die Indikation, Körpergröße und Gewicht des Patienten sowie einige Laborwerte ein, soll das Programm dem behandelnden Arzt Vorschläge dazu machen, welches und warum ein Medikament abgesetzt werden kann.

Patienten sollten auf Interaktionscheck bestehen

Bis es so weit ist, rät er dazu selbst beim behandelnden Facharzt immer genau nachzufragen, warum ein Medikament verordnet wird. "Man sollte sich genau erklären lassen, was die Vor- und Nachteile der Behandlung sind und bei mehreren Mitteln Interaktionschecks fordern", sagt Prof. Sönnichsen. Letzteres können auch Apotheken leisten. Wichtig ist außerdem neuen Ärzten vor der Behandlung Auskunft über Dauermedikationen oder gerade eingenommene Medikamente zu geben, um zu verhindern, dass Ungewolltes passiert.

(wat)
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