Das Gebisssystem als emotionales Entlastungsventil Zähneknirschen als Ventil für Stress

Berlin/Düsseldorf · Jeder Fünfte leidet an krankhaftem Zähneknirschen. Zahnschmelz und Kiefergelenke werden beeinträchtigt, sogar Ohrgeräusche und Rückenschmerzen können die Folge sein. Als wesentliche Ursache gilt Stress. Zahnschienen und Entspannungsübungen können helfen.

So steht es um die Zähne der Deutschen
14 Bilder

So steht es um die Zähne der Deutschen

14 Bilder

Meistens passiert es nachts im Schlaf, aber auch im Stau, in der Supermarktschlange oder anderen monotonen Alltagssituationen: Menschen knirschen mit den Zähnen oder pressen sie aufeinander.

Jeder zweite Deutsche hat diese Angewohnheit zumindest zeitweise im Leben, schätzt die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) in Berlin. Häufig hört das Phänomen von allein wieder auf.

Der Fachbegriff für's Zähneknirschen: Bruxismus

"Bei einem Fünftel kommt es allerdings zu einem dauerhaften Aufeinanderpressen oder Reiben der Ober- und Unterkieferzähne mit problematischen Folgen", sagt BZÄK-Vizepräsident Prof. Dietmar Oesterreich. Mediziner bezeichnen das als Bruxismus.

Dabei werden enorme Kräfte im Mund freigesetzt. "Sie können bis zu einem Zehnfachen des normalen Kaudrucks betragen, dem die Zähne in Extremfällen bis zu 45 Minuten täglich ausgesetzt sind", sagt Oesterreich.

Der Zahnschmelz, die härteste Substanz des menschlichen Körpers, wird dadurch stark beschädigt. Die Auswirkungen reichen von glatt polierten Flächen über Absplitterungen und Risse bis hin zu lockeren und stark abgeriebenen Zähnen, bei denen der Zahnnerv nur noch von einer dünnen Schicht überdeckt ist.

"Durch das Pressen und Knirschen wird zudem die Kaumuskulatur stark angespannt, überlastet und kann punktuelle oder diffuse Schmerzen verursachen", erklärt Oliver Ahlers von der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie in Düsseldorf.

Unangenehme Begleiterscheinungen

In der Folge wird der Unterkiefer zu stark gegen den Oberkiefer gedrückt. Schmerzen im Kiefergelenk sind möglich. "Durch die Änderung der Gelenkstellung kann die Bandscheibe im Kiefergelenk gequetscht werden und aus ihrer normalen Stellung herausspringen."

Bei manchen Patienten begünstigt auch die Kopfhaltung, dass der Kiefer falsch steht. "Dies kann durch neuromuskuläre Reflexbögen sogar Schmerzen in der Kopf-, Nacken-, Schulter-, Rücken- und Beckenmuskulatur auslösen", sagt Oesterreich.

Auch Tinnitus und Sehstörungen sind mögliche Begleiterscheinungen. Zugleich führt die starke Muskelanspannung dazu, dass sich die Kaumuskeln vergrößern und so das Knirschen noch heftiger wird: eine Belastungsspirale entsteht.

Die Ursachen von Bruxismus sind vielfältig. "Stress gilt aber als wesentlicher Faktor. Man spricht hierbei von einer psychosomatischen Erkrankung", sagt Oesterreich. Vermutlich lassen unterdrückte Gefühle, Ängste, Alltagsprobleme oder einschneidende Lebensereignisse Betroffene häufig knirschen.

"Das Gebisssystem als emotionales Entlastungsventil"

"Das Gebisssystem dient dabei als emotionales Entlastungsventil", ergänzt Ahlers. Daneben können auch falsch stehende Zähne, nicht passende Kronen oder Füllungen sowie orthopädische Gründe wie eine falsche Körperhaltung in krankhaftem Zähneknirschen münden.

Weil Bruxismus meistens unbewusst stattfindet, ist ein frühzeitiges Erkennen schwierig. "Nachts bekommt das Knirschen häufig nur der Bettnachbar mit", sagt der Diplom-Psychologe Hans-Jürgen Korn von der Deutschen Gesellschaft für Biofeedback.

Dennoch gibt es Möglichkeiten, rechtzeitig aufmerksam zu werden.
"Schmerzt meine Kaumuskulatur beim Abtasten und kann ich den Mund nicht so weit öffnen wie bisher, insbesondere morgens nach dem Aufwachen?

Das kann mit einem Knacken einhergehen, muss aber nicht", sagt Ahlers. Auch eine veränderte Form der Zähne könnte darauf hindeuten. Wer so etwas bemerkt, sollte seinen Zahnarzt ansprechen.

Lautet die Diagnose tatsächlich Bruxismus, bekommt der Betroffene meistens eine Zahnschiene aus Kunststoff. Davon gibt es unterschiedliche Arten. "Einfache Knirscherschienen zielen lediglich darauf ab, den Verlust weiterer Zahnhartsubstanz zu stoppen", erklärt Ahlers.

Behandlungsmethode

"Aufbissbehelfe ohne adjustierte Zahnkontakte" hingegen sollen einen hemmenden Reflex auslösen, indem Betroffene beim Knirschen ein unerwartetes Hindernis bemerken und dadurch Ober- und Unterkiefer auseinanderbringen. Diese sollten aber nur kurzzeitig getragen werden.

"Bei langfristiger Behandlung ist eine aufwendig konstruierte Okklusionsschiene wirksam. Zusätzlich zu den anderen beiden Effekten stellt sie eine Kieferposition ein, die den Unterkiefer stabilisiert und die Kaumuskeln entlastet."

Allerdings stellt sich bei psychisch begründetem Bruxismus die Frage, inwiefern eine ausschließlich zahnärztliche Schienentherapie zur Behandlung geeignet ist. "Sie kann die akuten Schmerzen und Symptome lindern, aber den Stress nimmt der Zahnarzt den Patienten nicht", betont Oesterreich.

Das Knirschen wahrnehmen

Eine Möglichkeit, sich sein Knirschen und Pressen bewusst zu machen, ist das sogenannte Biofeedback. Dabei wird ein Sensor, der die Muskelanspannungen misst, auf die Kaumuskeln geklebt.

"Wenn es sich nicht lediglich um kurze Schluckbewegungen handelt, werden sie dem Betroffenen durch einen Warnton rückgemeldet", erläutert Korn.
"Dadurch kann die eigene Körperwahrnehmung gestärkt werden, um besser zu merken, in welchen Situationen man auf Stress mit einer Anspannung reagiert.

"Da oft unklar ist, ob die Betroffenen tags oder nachts knirschen, sollte das Biofeedback zu beiden Tageszeiten in einem Zeitraum von etwa vier Wochen angewendet werden.

"Zudem müssen Betroffene durch Entspannungsübungen lernen, wie man den Kiefer locker lässt: die Backenzähne berühren sich nicht, der Mund ist geschlossen und die Zungenspitze ruht hinter der oberen Zahnreihe." Entscheidend sei, dass sie im Alltag immer wieder kurz überprüfen, ob sie eine solche Kieferhaltung eingenommen haben.

(dpa)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort