Wiederentdeckung der Langsamkeit Lob der Gemütlichkeit

Düsseldorf · Schnelllebigkeit ist das zentrale Stichwort der Gegenwart. Zugleich mehren sich die Stimmen derer, die zu Gelassenheit und Gemütlichkeit aufrufen. Was die Wiederentdeckung der Langsamkeit mit ihm macht, könnte jeder täglich überprüfen: im Fernsehen, auf der Autobahn und auf seinem EKG.

Wiederentdeckung der Langsamkeit: Lob der Gemütlichkeit
Foto: Shutterstock/ Ditty_about_summer

Alles begann mit dem Dach von Kloster Ettal. Es wollte und wollte nicht gelingen, und ich, das Kind, giftete vor Zorn. Andererseits war Ettal ein Magnet, der uns magisch anzog. Und irgendwann fand ich mit Mutters Hilfe wieder ein Mosaiksteinchen dieses absurd schweren 2000-Teile-Puzzles. Auf diese Weise - unmerklich, aber hartnäckig - vervollständigte sich ein Welterbe auf dem Wohnzimmertisch. Der Himmel über Ettal war dann nur noch eine Lappalie.

Diese Momente von damals haben sich mir unauslöschlich eingegraben. Diese wunderbare Langsamkeit! Diese Engelsgeduld! Diese Sichtung der Welt wie in einem extrem langsam ablaufenden Film!

Diese Momente sind auf einem anderen Kontinent Literatur geworden: "Die Entdeckung der Langsamkeit" von Sten Nadolny, einer der größten Romane, die je geschrieben wurden. Er schildert die Abenteuer des großen Seefahrers und Polarforschers John Franklin, der seine fast pathologische Langsamkeit in eine bewunderungswürdige Beharrlichkeit verwandelt.

Die Welt benimmt sich allerdings so, als sei die Lektüre dieses epochalen Buches spurlos an ihr vorbeigewandert. Die Welt will keine Beharrlichkeit entwickeln, sie will alles schnell und sofort. Sie kann nicht warten. Und sie will nicht nachdenken. Sie ist permanent online. Wissen ist allzeit verfügbar, Unterhaltung auch. Beides wirbt darum, jederzeit und vor allem fix abgerufen zu werden.

Lange wird das mit diesem Affenzahn nicht weitergehen. Schon jetzt gibt es Leute, die auf die Bremse treten. Das Schöne ist: Es werden immer mehr.

Neulich überraschte die Nachricht, dass das norwegische Staatsfernsehen in unendlich langen Einstellungen zum Teil über mehrere Tage Bilder von Bahn- und Schiffsfahrten durch Skandinavien zeigt. Kein Wechsel der Perspektive, keine Werbespots. Nichts. Es ist die radikale Weiterentwicklung einer Idee, die das SWR-Fernsehen vor Jahren hatte, als es nachts Bilder rollender Züge und Busse im Schwäbischen zeigte. Gern sahen schlaflose Hektiker auch zu, wie auf dem Kulturkanal Arte flauschige Schäfchen umhersprangen. Noch heute bekommt man vom Zauber dieser Ereignislosigkeit einen Geschmack, wenn man morgens im Bayerischen Fernsehen die Wettervorschau ansieht. Dabei gibt es zu Volksmusik Graupelschauer am Watzmann oder Föhn am Starnberger See. Der ORF strahlt solche Live-Bilder ebenfalls seit Jahren aus, um regennasse Tirol-Urlauber ungewollt davon zu überzeugen, wie schön es auch in Kärnten ist.

Die Statistiker unter den Ästheten haben ähnliche Beobachtungen schon vor einiger Zeit gemacht. Sie haben gemessen, dass Filme, Video-Clips und Werbespots zum Teil wieder deutlich längere Einstellungen bekommen, so dass sie aussehen wie im grandiosen Film "Der Bienenzüchter" von Theo Angelopoulos. Das hat mitnichten etwas mit Sehnsucht nach Schönheit zu tun, sondern kommt unserer angeborenen Unfähigkeit entgegen, gestückelt überbrachte Informationen aufzunehmen und zu speichern. Offenbar spricht sich die werbepsychologische Erkenntnis herum, dass der Kunde den Botschaften nur bei deren langsamer Zustellung auf den Leim geht. Das Staccato der Bilder ist heutzutage kein Wert mehr an sich, sondern eine Präsentationsform aus dem Gestern. Dass das Langsame viel intensiver unser Herz erreicht, sieht man allein daran, dass die Lieblingshits von Menschen aller Nationen, Altersgruppen und Geschlechter sehr oft Balladen sind.

Wollen wir zu Mutanten werden, die wie von Tranquilizern betäubt scheinen? Nein. Zeit ist aber der Faktor, durch den wir genesen. Eine Form der langsamen Revolution erleben wir täglich, und zwar an unerwartetem Ort: auf der Autobahn. Neulich sah ich einen Porsche auf der A 61, der mit 90 km/h über die rechte Spur - kroch? Nein, schwebte! Der Fahrer hatte den Tempomaten eingeschaltet und wurde von kodas und Fiats überholt, was die größte Erniedrigung darstellt.

Erniedrigung für wen? Der Porsche-Fahrer war ein schneidiger Herr, der nicht telefonierte, sondern mit der Dame auf dem Beifahrersitz eine gemütliche Fahrt genoss. Es wirkte wie Understatement, aber es war natürlich eine Demütigung der anderen Autofahrer. Die Art, wie da ein Fahrer seine Ressourcen verschmähte, besaß etwas Gönnerhaftes und Aufreizendes. Denn wenn der Fahrer wollte, wie sein Porsche könnte . . .

Tempo wird tatsächlich immer auch als Konkurrenz verstanden, als pseudo-olympischer Kraftakt. Die geheimen Straßenrennen, bei denen sich jugendliche Autofahrer zu Tode brausen, haben etwas mit dieser Sehnsucht zu tun, das Fernsehen und seine albernen Action- und Sportlichkeits-Rituale in den Alltag zu holen. Dieselben Fahrertypen empfinden ein Brummi-Rennen auf der Autobahn als Provokation und kommen dabei auf Gedanken, die im Fall ihrer Realisierung zu Zuchthausstrafen führen.

Warum die Leute so schnell fahren? Keiner weiß es. Es ist der Thrill durch Adrenalin, aber der ist in hohem Maße ungesund. Genuss eines Tempos ist ab 130 km/h nicht mehr möglich, sagt der Kardiologe; das hängt übrigens nicht vom Autotyp ab. Jede Blutdruckmessung zeigt bei diesem Tempo bereits erhöhte Werte, und bei langen Fahrten, die eine Art Dauerstress bedeuten, steigt der Spiegel des Hormons Cortisol stark an; es stellt die Gefäße eng und treibt den Blutdruck ebenfalls hoch.

Ich will es dazu nicht mehr kommen lassen und habe, seit ich ein neues Auto besitze, meinen Diesel-Durchschnittsverbrauchswert auf feine 4,1 Liter auf 100 Kilometer gedrückt. Und ich ertappe mich dabei, wie ich immer noch dezenter, sparsamer fahre. Ich schleiche mit Vorsatz! Manchmal frage ich mich, warum ich früher gerast bin, wenn doch selbst die schnellsten BMW-Fahrer nie wesentlich früher am Ziel sind als ich. Straßenverkehrsforscher orakeln übrigens litaneihaft, dass beispielsweise alle Pendler, die morgens von Mönchengladbach nach Düsseldorf fahren, vielleicht sogar schneller ankämen, wenn sie nur alle langsam, mit Umsicht, mit Abstand führen. Langsamer ist schneller; das sollte man sich als heilsames Paradoxon mal im Kopf zergehen lassen.

Unsere Schnelllebigkeit - das perfekte Wort für unseren Geisteszustand - führt aber nicht dazu, dass wir mehr Freizeit haben, weil wir Aufgaben etwa durch modernste Technik schneller erledigt bekommen. Nein, die freie Zeit wird sofort wieder mit neuen Aufgaben bestückt, eine Neigung, die sich im Berufsleben wie in der Freizeit zeigt. Es fehlt an der Balance zwischen dem Schnellen (das ja nicht an sich Teufelswerk ist) und dem Langsamen. Wohin das führt, ist klar - in die Erschöpfung. Die öffentlichen Zahlen hierzu sind beeindruckend: Die Anzahl der Fehltage durch psychische Erkrankungen hat sich in den vergangenen 15 Jahren fast verdoppelt, was laut Bundesarbeitsministerium zu jährlichen Produktionsausfällen in Höhe von acht bis zehn Milliarden Euro führt.

Apropos Politik: Dort wird natürlich mit schlechtem Beispiel vorgemacht, dass die Zeit immerzu drängt und hetzt und plagt. An Zeit zur Entwicklung und Reifung von Gedanken mangelt es. Die Sehnsucht nach einer staatsmännischen Gelassenheit, in der wirklich einmal Zeit zum Nachdenken bleibt, hat auch die Politik erreicht. Neulich warf der SPD-Grande Franz Müntefering im Magazin "Cicero" düstere Visionen an die Wand: "Wir müssen Tempo rausnehmen", denn Demokratie lebe vom Streit, von der Diskussion, dazu benötige man Zeit. Demokratie brauche "eine menschenmögliche Geschwindigkeit, und die gibt es nicht mehr".

Wem Langsamkeit ein zu brutaler Begriff ist, der sollte auf die bereits sehr heilsam klingende Entschleunigung umsteigen. In der Medizin wird das schon seit längerem gelehrt. Seit Forscher gezeigt haben, dass Yoga nicht nur das Gehirn klärt, sondern auch Blutdruck und Herzfrequenz senkt (und zwar deutlich), verzeichnen Kurse verstärkte Nachfrage. Yoga funktioniert aber nur, wenn wir das Handy oder das Smartphone abschalten und weglegen. Diese Lebenserleichterer haben das Zeug zu Quälgeistern mit hohem Suchtfaktor.

Ich bewundere Leute, die mit diesen Geräten fast desinteressiert umgehen und nicht von ihnen beherrscht werden. Das möchte ich nämlich auch können - und wieder zurückfinden zum Tempo, in dem wir früher am Kloster Ettal herumpuzzelten. Wie war das Leben, als es nur Telefone mit Wählscheiben gab, doch herrlich langsam. Man war unerreichbar. Man hatte Feierabend. Es gab deutlich weniger Burn-out-Fälle. Wollen wir dorthin zurück? Die aktuelle Debatte zeigt: Ja, wir wollen. Die bessere Antwort wäre: Ja, wir können.

Es ist ein weiter Weg bis Laramie. Satteln wir die Pferde und lassen es gemütlich angehen, wie der weise Bär Balou im "Dschungelbuch" rät. Es wird uns guttun.

(RP)
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