"Oma-Export" Zur Pflege nach Polen

Zabelków · Viele Deutsche versuchen, ihre pflegebedürftigen Angehörigen in Osteuropa unterzubringen. Im polnischen Zabelków gibt es sogar ein Pflegeheim speziell für Deutsche. Was steckt hinter dem Oma-Export?

Ein selbstgebasteltes rotes Herz schmückt das Foto auf Wilhelm Theuers Schreibtisch. Es ist eine alte Aufnahme, schwarz-weiß, an den unteren Ecken schon etwas verfärbt. Und doch ist es der wertvollste Besitz des 89-Jährigen. Denn darauf zu sehen ist er mit seiner Ehefrau Else. Sie im langen, geblümten Sommerkleid. Er mit kariertem Hemd und Lederhose. Gemeinsam spazieren sie auf einer Wiese, lächeln, sehen sich verliebt an. "Das war kurz vor unserer Hochzeit", sagt Wilhelm Theuer. Er muss schlucken. Seit ihrer Hochzeit 1952 haben die Eheleute gemeinsam in der Nähe von Hanau gelebt. Jeden Tag haben sie mit einem Kuss begonnen. Jeden Abend gingen sie gemeinsam ins Bett. Bis 2010.

Else Theuer musste operiert werden, erlitt dabei einen Schlaganfall und war fortan halbseitig gelähmt. Sie kam in ein Pflegeheim, zehn Kilometer weit weg von ihrem Mann. "Ich blieb alleine in der Wohnung zurück, das war sehr schwierig für mich", erzählt Wilhelm Theuer. "Ich habe mir nichts mehr gewünscht, als bei meiner Frau sein zu dürfen, doch es war in Deutschland unmöglich für uns, einen zweiten Pflegeheimplatz zu bezahlen." Zwei Jahre lang war das Paar getrennt. Dann ist die Tochter im Internet auf die "Seniorenresidenz an der Oder" gestoßen - nicht bei Frankfurt gelegen, sondern in Polen, in Zabelków, einem 750-Seelen-Dorf an der tschechischen Grenze. Dort konnte das Paar wieder gemeinsam leben. Dort konnte Wilhelm Theuer bei seiner Frau wachen, als es ihr schlechter ging. Er konnte bei ihr sein, als sie vergangenes Jahr starb.

Von Oma-Export, Alten-Entsorgung, sogar von "unmenschlicher Deportation" - wie die britische Zeitung "The Guardian" schrieb - ist in den Medien oft die Rede, wenn es darum geht, dass immer mehr Deutsche ihre Angehörigen in Pflegeheimen im Ausland unterbringen. Vor allem Osteuropa ist beliebt: Die Nachfrage und das Angebot in Tschechien, Ungarn und Polen steigen ständig. Allein in Polen wurden in den vergangenen drei Jahren elf neue Altenheime speziell für deutsche Senioren gebaut, mit deutschsprachigem Pflegepersonal und hochwertiger Ausstattung. Bulgarien und Rumänien rücken auf dem neuen Markt nach. Ihr Geschäft: Deutschlands alternde Gesellschaft. Was zynisch klingt, ist Realität: Laut einer repräsentativen Umfrage der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers (PwC) kann sich jeder zweite Deutsche vorstellen, seine Angehörigen im Ausland pflegen zu lassen, wenn er dadurch Geld spart. Allerdings wären für jeden fünften deutschsprachiges Personal und vergleichbare medizinische Standards Voraussetzungen. Ein Trend? Ja. Aber ist dies ein Trend, der eine neue deutsche Mentalität der Abschiebung von Alten offenbart - nach dem Motto: Hauptsache günstig -, oder verdeutlicht er ein unzureichendes System der Altenpflege in Deutschland?

Eines steht fest: Die Pflegekosten in Osteuropa sind deutlich niedriger als hierzulande. August Schmidt (82), seinen wahren Namen möchte er nicht preisgeben, zahlt für sein Doppelzimmer in der "Seniorenresidenz an der Oder" 1250 Euro im Monat, inklusive aller Pflegeleistungen. Für ein Einzelzimmer kämen 100 Euro Aufschlag hinzu. Das wollte der 82-Jährige aber nicht. Dafür ist er ein zu geselliger Typ, er spielt und unterhält sich gerne. Gerade erst hat er mit einer Pflegerin eineinhalb Stunden Halma gespielt. Über seinen früheren Beruf als Landwirt könnte er sogar noch länger erzählen. Auf die Frage, warum er dann einen Altenheimplatz so weit von seinen Verwandten gewählt hat, antwortet er jedoch nur im Flüsterton: "Wegen des Preises."

In Deutschland werden Pflegebedürftige in die drei Stufen erheblich (I), schwer- (II) und schwerstpflegebedürftig (III) eingeordnet. Wer in der dritten Stufe ist, muss mit Pflegekosten von monatlich rund 3400 Euro rechnen. Die gesetzliche Krankenkasse übernimmt 1550 Euro. Den Rest muss der Betroffene selber tragen. Für Senioren mit kleiner Rente ist das meist unbezahlbar, Erspartes ist schnell aufgebraucht. Auch bei August Schmidt, der nach mehreren Jahren ambulanter Pflege vier Monate lang in einem deutschen Heim lebte. Bis er sich das nicht mehr leisten konnte. Seine Miene wird eisern bei dem Thema, seine Hände trommeln auf dem Tisch. Nach und nach hat er Haus, Hof und Ländereien verkauft. Bis auch dieses Geld aufgebraucht war. Als seine Tochter für die Kosten aufkommen sollte - Kinder sind für ihre pflegebedürftigen Eltern unterhaltspflichtig, nur ein Schonvermögen von 70.000 Euro bleibt unangetastet - zog er die Reißleine. "Das wollte ich nicht. Meine Tochter hat zwei Chemotherapien hinter sich, sie ist selbst körperlich angegriffen." Die Entscheidung, auszuwandern, fiel dann schnell: "Ob deutsche oder polnische Pfleger - das ist mir egal. Hauptsache man wird gut betreut. Und hier komme ich mit meiner Rente und dem Pflegegeld gut zurecht." Schmidt senkt den Blick. Der Gedanke an Deutschland macht ihn betroffen. Nicht, weil er die Heimat vermisse, sagt er. "Es ist traurig, dass man nach 40 Arbeitsjahren kein deutsches Pflegeheim bezahlen kann."

Das zeichnet ein gutes Pflegeheim aus
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Das zeichnet ein gutes Pflegeheim aus

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Foto: Radowski

Ein Problem, das immer mehr Menschen in Deutschland betrifft. Das Statistische Bundesamt beobachtet seit 15 Jahren eine Zunahme der auf staatliche Hilfe angewiesenen Pflegebedürftigen. Demnach gab es 2013 rund 2,63 Millionen Pflegebedürftige in Deutschland, 411.000 davon benötigten Pflegehilfsleistungen. Ein weiterer Anstieg ist zu erwarten: Einerseits werden die Menschen in Deutschland immer älter, andererseits steigen aber auch die Kosten für gute Pflegeheime. Im Jahr 2050 rechnet das Statistische Bundesamt mit 4,7 Millionen Pflegebedürftigen. Jeder 15. Deutsche wäre dann ein Pflegefall.

Dabei spricht die Bundesagentur für Arbeit bereits jetzt von einem Fachkräftemangel. So muss sich in deutschen Pflegeheimen häufig eine Pflegekraft um acht bis zehn Patienten kümmern. Im Akkord werden dann die Pflegebedürftigen umgezogen, gewaschen und gefüttert. Nicht selten fühlen sich Pflegekräfte überfordert, die Fehlerquote steigt. Anders sieht der sogenannte Personalschlüssel in den auf deutsche Senioren spezialisierten Altenheimen in Polen aus. Dort kommt durchschnittlich eine Pflegekraft auf vier bis fünf Patienten.

Das gilt auch in Zabelków. "Wir haben derzeit 75 Bewohner, für die 20 Pflegekräfte zuständig sind", sagt Pflegeleiterin Latifa Dehbi. Fast alle können Deutsch sprechen, lernten dies in der Schule, bei der Arbeit im Ausland oder spätestens beim hauseigenen Sprachkurs, der einmal die Woche stattfindet - Voraussetzung für die Anstellung. Hinzu kommen eine Krankenschwester und eine Physiotherapeutin. Dehbi betont: "Nicht nur wegen des Geldes ist unsere Seniorenresidenz eine Alternative zu deutschen Heimen, auch die Qualität der Pflege ist eine andere." In ihrem sommerlichen weißen Shirt und dem Jeansrock wirkt die zierliche 31-Jährige gar nicht wie eine Pflegeleiterin. Viel Berufserfahrung bringt sie dennoch mit - aus Deutschland wie aus Polen. In Hamm geboren, machte Dehbi ihre Ausbildung zur Pflegefachkraft in ihrer Heimatstadt. Danach arbeitete sie zwölf Jahre lang in einem Altenheim nahe Münster. "In Deutschland hatte man immer Zeitdruck, keine Chance, sich mal mit den Bewohnern hinzusetzen", erzählt sie. "Das hat mir jegliche Energie ausgesogen und ich machte mir Gedanken, ob ich das ein Leben lang so machen will." Als die junge Frau von der neugebauten Residenz in Oberschlesien erfuhr, nahm sie Urlaub, um diese zu besichtigen. "Ich habe hier gesehen, dass Pflege doch anders geht, dass man Zeit hat, mit Bewohnern spazieren zu gehen oder zu spielen - all die Dinge, für die ich den Beruf gewählt habe." 2013 ist Dehbi nach Polen gezogen, begleitete die ersten Neueinzüge.

Zu denen gehörte auch Karl-Heinz Laschet. 71 Jahre alt. Aus Gelsenkirchen. An Parkinson erkrankt. Gerade ist sein Bruder Horst zu Besuch. Vier Wochen lang bleibt er. Damit sich die lange Fahrt lohne, sagt er. Tagsüber spielen die Brüder Karten, am Abend sieht sich Horst Laschet die umliegenden Städte an. Ratibor hat es ihm angetan.

Anfangs ist er skeptisch gewesen, den Bruder in Oberschlesien zu lassen. Knapp 1040 Kilometer trennen die beiden. "Meine Schwägerin hat das eingefädelt, sie hatte einen Fernsehbericht über die Residenz gesehen. Davor hat sie sich Pflegeheime in Deutschland angeschaut und war über die Betreuung nicht gerade erfreut", sagt er. Inzwischen ist auch der Rentner überzeugt. Insbesondere nachdem er einen Fall miterlebt hat, bei dem eine alte Frau, wie er sagt, mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt aus einem anderen Pflegeheim nach Zabelków kam. "Sie war apathisch und verklemmt. Als ich drei Monate später wieder zu Besuch da war, war sie eine ganz andere Person, lebhaft, fröhlich, offen", so Laschet.

Kein Einzelfall, wie Debhi weiß. Da die Kapazitäten in vielen Pflegeheimen fehlten, würden die Bewohner oft mit Medikamenten ruhiggestellt, sagt sie. Richtig findet das die Pflegeleiterin nicht. "Doch wenn in einem Heim auf mehr als 30 Bewohner nur zwei Pflegekräfte kommen, ist dies nicht anders zu bewerkstelligen", sagt sie. In der "Seniorenresidenz an der Oder" werden die Medikamente, wenn möglich, nach und nach abgesetzt, ansonsten reduziert. Viele der Patienten seien danach wieder mobil, nicht mehr inkontinent oder lebten gar auf.

Doch wie kann ein Pflegeheim in Polen dann so günstig sein? Die Gründe sind volkswirtschaftlicher Natur: Zum einen sind die Lebenshaltungskosten, etwa für Strom oder Lebensmittel, deutlich günstiger als in Deutschland. Auch spielt der starke Währungsunterschied eine Rolle. So bekommt man in Polen für einen Euro circa vier Zloty, was dazu führt, dass man in Polen für einen Euro umgerechnet mehr kaufen kann als in Deutschland. Vor allem aber: Der Bruttolohn polnischer Arbeitnehmer liegt deutlich unter dem von deutschen. Verdient eine ausgebildete Krankenschwester in Polen durchschnittlich 400 Euro pro Monat, sind es in Deutschland mindestens rund 1700 Euro.

Eine polnische Pflegekraft kann sich ein Pflegeheim wie die "Seniorenresidenz an der Oder" also nicht leisten. Selbst die nicht auf Deutsche spezialisierten Altenheime in Polen, die nicht diesen hohen Qualitätsstandard haben, sind vielen einfachen Arbeitnehmern zu teuer. Für die Bevölkerung Polens sind die bestehenden Verhältnisse des Pflegesystems ähnlich schwierig wie für uns in Deutschland - und verschärfen sich aufgrund des neuen Trends womöglich noch. Pflege im Ausland: eine Option für Deutsche, die Polens Senioren versagt bleibt.

(beaw)
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