OP vom Opa

Viele Ärzte sind auch im Ruhestand noch tätig. In Zeiten des Ärztemangels ist das vielerorts ein Segen. Eine direkte Kontrolle ihrer Eignung gibt es hierzulande noch nicht.

Als sich der Patient über seinen Operateur erkundigte, der ihm die neue Hüfte einsetzen sollte, musste er schlucken. Als dessen Geburtsjahr stand auf der Klinik-Website eindeutig nachzulesen: 1946. Der Chirurg war also 70 Jahre alt. Der Patient holte zweite und dritte Meinungen ein, die ausschließlich die Kompetenz seines Arztes betrafen. Die Botschaften waren beruhigend: Der Mann verstehe sein Handwerk wie kaum ein anderer; er habe zwar früher in einer anderen Klinik gearbeitet, aber nun sei er hier - und alle seien dankbar dafür.

Dankbar war die deutsche Ärzteschaft dieser Tage nicht unbedingt, als sie eine Studie aus den USA zur Kenntnis nehmen musste. Dort beschäftigte sich Joel M. Kupfer in der angesehenen Zeitschrift "Jama" (Journal of the American Medical Association) mit der Frage, wann ein Arzt seinen Beruf aufgeben sollte. In den USA sind 26 Prozent der zugelassenen Ärzte älter als 60 Jahre - Tendenz steigend. In Deutschland ist es bald ähnlich. Die "American Medical Association", die Standesorganisation der Ärzte, will jetzt Kriterien ausarbeiten, mit denen sie die körperliche und geistige Eignung von Ärzten sowie ihre geistigen und klinischen Leistungen regelmäßig messen kann.

Reduzierter OP-Plan für chirurgische Rentner

Friedrich-Eckart Isemer würde einer solchen Prüfung beruhigt entgegensehen. Der 67-jährige Chirurg war viele Jahre chirurgischer Chefarzt am St. Josefs-Hospital in Wiesbaden und gilt über Hessen hinaus als Experte für Hernien: Leistenbrüche, Nabelbrüche, Zwerchfellbrüche. Wer zu Isemer ging, der wusste, dass er einen sehr guten Operateur bekam, der sich stets weiterbildete und alle alten und neuen Techniken beherrscht, auch das Operieren durchs Schlüsselloch. Als der (viel jünger wirkende) Arzt vor zwei Jahren aus dem Klinikdienst schied, überlegte er sich, ob er von jetzt auf gleich das Skalpell fallen lassen wollte - in einem Alter, da er alles konnte und immer noch Patienten zu ihm kamen und von ihm operiert werden wollten. Nein, entschied Isemer, das sofortige und vollständige Erlahmen medizinischer Tätigkeit erschien ihm unsinnig, zumal in unseren Zeiten eines eklatanten Ärztemangels.

Seitdem bietet er seine Erfahrung als Bereichsleiter für Hernienchirurgie in der DKD Helios Klinik in Wiesbaden an, mit reduziertem Stundenplan, aber nicht nachlassender Kompetenz. Soeben bekam seine Abteilung ein neuerliches Zertifikat der Qualitätssicherung zuerteilt. Isemer: "Wer mir auf die Finger gucken will, um zu sehen, wie ruhig sie sind: Er kann gern kommen."

Ärzte werden auf dem Gipfel ihres Könnens abberufen

Warum denn auch sollen Ärzte im Gegensatz zu Politikern, Unternehmern, Anwälten oder Dirigenten auf dem Gipfel ihres Vermögens abtreten? Wer sich gesund fühlt und souverän handelt, kann für die Allgemeinheit nur ein Segen sein. Man sollte auch nicht zwingend auf die Optik schauen: Schon mancher Pultstar, etwa Karajan oder Celibidache, wurde mit Rückenweh von Assistenten zum Pult geführt, damit er dort seinem erhabenen Wirken nachkommen konnte. Sobald er den Taktstock hob, wurde er 30 Jahre jünger. Bei Ärzten ist das ähnlich. Von dem renommierten Herzchirurgen Reiner Körfer, der auch heute, mit 74 Jahren, noch am Tisch steht (in Duisburg), ist bekannt, dass für ihn jahrelang die morgendliche Bypass-Operation eine Art Jungbrunnen war. Das dürfte sich nicht sonderlich geändert haben. Spötter ("Der kann ja gar nicht aufhören!") waren und sind ihm egal.

Isemer sieht das mit der Qualität und dem Aufhören so: "Für mich gibt es drei Kriterien, dass ein Arzt aufhören sollte: bei körperlichen Gebrechen, bei Motivationsverlust und Frustration und bei ausbleibendem beruflichen Erfolg." Isemers Kollege Serban-Dan Costa von der Universitäts-Frauenklinik Magdeburg geht indes einen Schritt weiter: "Es wäre sinnvoll festzustellen, wann ein Arzt nicht mehr über die notwendigen kognitiven und neuromotorischen Fähigkeiten verfügt, um gute Medizin zu machen."

US-amerikanische Epidemiologen sind der Frage bereits 2005 in den "Annals of Internal Medicine" nachgegangen, ob ärztliche Erfahrung und Kompetenz mit dem Alter zu- oder abnehmen. In einer Übersichtsstudie zeigten die Forscher, "dass ein Zusammenhang zwischen höherem Alter und niedrigerer Qualität in mehr als der Hälfte der analysierten 62 Publikationen nachweisbar" war. Es kam auch heraus, dass Ärzte, je älter sie waren, mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt nicht unbedingt Schritt halten konnten. Sie waren nur eingeschränkt bereit, neue Standards etwa bei OP's zu akzeptieren. Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein, sieht die US-Studie skeptisch: "Die möchte ich gern nachlesen." Generell findet er: "Für Patienten kann es nur ein Gewinn sein, wenn ein erfahrener älterer Arzt ihn behandelt. Dann ist es egal, ob er 62 oder 71 Jahre alt ist. Jeder Arzt sollte sich aber selbstkritisch fragen: Sehe ich gut? Bin ich schnell, ruhig, ausdauernd, kraftvoll genug?" Bei diesen Kriterien können auch Jüngere Defizite haben.

Mancher reife Arzt muss sich im

Ruhestand nichts mehr beweisen

Überhaupt: Ist ein älterer Chirurg im (Un-)Ruhestand, der als Honorararzt nur ausgeruhte 15 Stunden pro Woche operiert, statt als Chef- oder Oberarzt das Vierfache zu absolvieren, aus Patientensicht nicht vorzuziehen? Einer, der nur noch die Fälle übernimmt, bei denen er sich wirklich sicher und wohl fühlt? Medizin ist ja zunehmend Spezialistenkunst, und weil auch in der Heilkunde Kunst von Können kommt, muss ein genial befähigter Individualist nicht von Nachteil sein.

Was aber sagen die Assistenz- oder Oberärzte? Nimmt ihnen der ältere Kollege, der am OP-Tisch (und vielleicht auch am Nimbus des Weißkittels und der Macht) klebt, nicht die Aufstiegschancen weg? In Zeiten des Fachärztemangels auch in Kliniken ist diese Vermutung unbegründet. Und der reife Honorararzt ist auch nicht den Privatpatienten vorbehalten. Isemer: "Ich behandle grundsätzlich alle Patienten, auch und gerade Kassenpatienten. Alles andere wäre unethisch."

Freilich macht die Medizin das Operieren nicht unbedingt schwerer. Heutzutage wagen sich viele Ärzte im OP-Saal in Zonen vor, vor denen früher alle das Schaudern befallen hätte - und der Wunsch laut geworden wäre, den Patienten an die nächste Uniklinik zu verwiesen. In modernen Zeiten sitzen filigran begabte Experten auch und gerade in kleineren Häusern. Andererseits können sich Ärzte heutzutage sowieso nicht leisten, Medizin nach Wald-und-Wiesen-Art zu betreiben; das Diktat der Leitlinien ist streng, und Abweichler fallen leicht auf.

Hat ein Chirurg im Alter

noch eine ruhige Hand?

Die Kardinalfrage: Wie ruhig ist sein Händchen? Die Gegenfrage: Möchte man von einem unerfahreneren Medicus operiert werden, dem die Hände vor Nervosität zittern? In jedem Fall sind Standardeingriffe etwa beim minimalinvasiven Operieren einfacher geworden: Bei der Arbeit durch die Kabelschächte der sogenannten Trokare (Führungsinstrumente), die durch kleine Schnitte beispielsweise in den Bauch geschoben werden, kann sich ein Arzt nur schwer verlaufen. Eine ruhige Hand benötigt sowieso nicht jeder. Frauenarzt Costa sagt, dass es auch unter den Rentnern solche und solche Ärzte gibt: "Es ist ein Unterschied, ob ein 75-jähriger Arzt Paracetamol verschreibt oder ob er eine Herztransplantation plant." Und was die Medikamente für Ärzte betrifft: Einige Ärzte, die im OP-Saal eine absolut ruhige Hand brauchen (Augenärzte), operieren schon in jüngeren Jahren mit Beta-Blocker.

Jeder Arzt hat einen Beruf, viele handeln aus Berufung - wie Dirigenten oder Politiker. Mancher ist auch im Ruhestand noch Arzt aus Leidenschaft und operiert vermehrt im fernen Ausland, und zwar immer die Bedürftigen. Immer kostenlos. Auch diese Menschen profitieren davon, dass ein Arzt sich jung hält und das tut, was er am besten kann und nur schlecht verlernt.

(w.g.)
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