Risikogruppe Senioren Jeder Vierte über 60 trinkt zu viel Alkohol

Düsseldorf · Mit dem Ausscheiden aus dem Beruf stürzen viele Menschen in die Sinnkrise. Außerdem schadet Alkohol Senioren stärker als Jüngeren. NRW will jetzt über das höhere Suchtrisiko im Alter aufklären.

Risikogruppe Senioren: Jeder Vierte über 60 trinkt zu viel Alkohol
Foto: Weber

96 Prozent aller Erwachsenen in Deutschland trinken Alkohol. Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren gelten 1,7 Millionen von ihnen als abhängig. Was wenig bekannt ist: Das größte Risiko, zum Alkoholiker zu werden, haben Senioren.

Nach Angaben des nordrhein-westfälischen Gesundheitsministeriums trinken fast ein Viertel der 60- bis 69-jährigen Männer und 17 Prozent aller 50- bis 59-jährigen Frauen Alkohol in riskanter Menge. Weil die Toleranz im Alter abnimmt, gelten in diesen Altersgruppen bereits kleine Mengen als gefährlich. "Weil sich der Stoffwechsel und das Verhältnis von Fett und Wasser im Alter verändern, geht der Alkohol schneller ins Blut", sagt Christine Sowinski, Psychologin beim Kuratorium Deutsche Altershilfe.

Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) warnt: "Suchtprobleme im Alter werden oft verharmlost oder als normale Alterserscheinungen missverstanden." Gestern stellte sie eine neue Kampagne der Landesregierung gegen Sucht im Alter vor. Mit neuen Broschüren in Arztzimmern, mit Info-Ständen auf Seniorenmessen und gezielten Schulungen für Pfleger soll der Blick für das Problem geschärft werden. Allerdings stehen dafür nur 20.000 Euro zur Verfügung.

Während das Problem der exzessiv trinkenden "Koma-Kids" bundesweit rückläufig zu sein scheint, kommen in NRW immer mehr Senioren mit akuter Alkoholvergiftung ins Krankenhaus. Allein in den vergangenen fünf Jahren stieg die Zahl der 60- bis 65-Jährigen in dieser Lage um 43 Prozent - auf zuletzt 1395 Betroffene im Jahr 2015. Die Dunkelziffer der alkoholbedingten Krankenhausbehandlungen dürfte noch wesentlich höher liegen: "Der Sturz von der Treppe wird in der Notaufnahme oft statistisch nicht als Alkoholproblem erfasst", sagt Jürgen Hallmann von der Landeskoordinierungsstelle für Suchtvorbeugung, "aber später stellt sich dann doch so mancher Seniorensturz als Folge von Alkoholmissbrauch dar." Während der Missbrauch bei Männern unabhängig vom sozialen Status ist, neigen vor allem Frauen mit höherem Status zur Sucht. "Die haben mehr Zeit für ein Piccolöchen", erklärt Steffens.

Alkohol ist nicht die einzige Suchtfalle für Senioren. Nach Schätzungen des Bundesgesundheitsministeriums neigen fünf Prozent der über 60-Jährigen zu missbräuchlichem Medikamentenkonsum - vor allem Schlaf- und Beruhigungsmittel stünden hoch im Kurs. "In Nordrhein-Westfalen sind rund 240.000 über 60-Jährige betroffen, davon sind rund 145.000 Frauen", schätzt die NRW-Gesundheitsministerin. Altershilfe-Psychologin Sowinski weist auf eine mögliche Ursache hin: "Bei Krankenhausaufenthalten werden vor größeren Operationen Schlaf- und Beruhigungsmittel verschrieben." Die darin enthaltenen Wirkstoffe der Benzodiazepine könnten abhängig machen.

Praktiker kritisieren, dass die Politik das Problem der Sucht im Alter auch selbst unterschätzt. Georg Seegers, Referent für Suchtkrankenhilfe bei der Caritas Köln, sagt: "Die Suchtberatung von Senioren wird nicht genügend gefördert." Aufgabe der Beratungsstellen sei hauptsächlich, Erkrankte wieder fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Seegers: "Ältere Menschen bleiben da auf der Strecke. Die Zusammenarbeit zwischen Suchthilfe und Altenhilfe ist noch nicht ausgereift." Als wesentliche Ursache der Sucht im Alter gilt die Sinnkrise nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben.

(RP)
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