Unbekannt, aber häufig ADHS — Wenn der Zappelphilipp erwachsen wird

Essen · Bei Kindern ist ADHS als Modeerkrankung verschrien, bei Erwachsenen ist sie hingegen kaum bekannt und das, obwohl rund 2,5 Millionen Deutsche betroffen sind. Wutausbrüche, Schlafstörungen oder überschäumende Gefühle zählen zu den Symptomen, die sich im Erwachsenenalter ganz anders darstellen als bei Kindern.

 Bei Erwachsenen erkennt man ADHS häufig daran, dass sie im Chaos versinken, abschweifen und sich nicht gut konzentrieren können.

Bei Erwachsenen erkennt man ADHS häufig daran, dass sie im Chaos versinken, abschweifen und sich nicht gut konzentrieren können.

Foto: Shutterstock/Blend Images

In jeder Schulklasse sitzt statistisch gesehen ein Kind mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS). Lehrer klagen über die Zappelphilippen im Unterricht. Doch trotz jährlich hoher Diagnosezahlen redet bei Erwachsenen darüber niemand mehr. Dabei sind in der Regel nicht automatisch mit dem Erwachsenenalter aus den Störenfrieden entspannte Menschen geworden. Nach neuen Erkenntnissen setzt sich das Leiden in 50 Prozent der Fälle fort, nur anders.

Statt mit dem Stuhl zu kippeln, geraten sie leicht in Streit mit Kollegen, fallen durch ihre impulsive Art aus dem Rahmen, neigen zu Wutausbrüchen oder können schlecht mit Kritik umgehen. Damit ecken sie an und werden von anderen geschnitten. Und noch etwas verändert sich auf dem Weg ins Erwachsenenalter. Während bei den Kindern mehr als viermal so viele Jungen als Mädchen unter ADHS leiden, ist das Verhältnis im Erwachsenenalter ausgewogen, sagt Psychologe Dr. Christian Mette.

Schwere Diagnose — wenn Symptome verschwimmen

Eines der deutlichen Symptome von ADHS im Kindesalter, die Hyperaktivität, wechselt später zu einer starken inneren Unruhe und Nervosität. Die kann sich in Schlafstörungen zeigen und ebenso in riskantem Verhalten. Das Problem an vielen der Symptome: Sie grenzen sich nur wenig von anderen psychischen Erkrankungen ab. So kann ein leichtsinniges und selbstgefährdendes Verhalten auch auf Depression hinweisen, die sich besonders bei Männern derart zeigen kann.

Betroffene berichten darüber, dass sie ständig mit etwas beschäftigt sein müssen und ihnen das Entspannen außerordentlich schwer fällt. "Langeweile ist ein riesiges Problem und der Umgang mit wenigen Reizen", sagt Mette weiter. "Erwachsenen fällt häufig an sich selbst auf, dass sie zu extremer Alltagsvergesslichkeit neigen. Häufig gehen Gegenstände verloren, weil sie nicht mehr wissen, wo sie sie abgelegt haben und auch in Gesprächen haben sie Probleme damit, den roten Faden zu behalten", sagt Dr. Christian Mette. Er ist Psychologe und Leiter einer wissenschaftlichen Arbeitsgruppe, die das Phänomen ADHS im Erwachsenenalter erforscht. In einer Spezialsprechstunde für Erwachsene mit ADHS, die das LVR Klinikum Essen im Bereich Psychiatrie und Psychosomatik der Universität Duisburg-Essen anbietet, hat er täglich Kontakt mit Menschen, die unter den für sie kaum kontrollierbaren Eigenarten furchtbar leiden. In Essen hat man sich rechtzeitig gut aufgestellt, um den einstigen Kindern, die heute als Erwachsene kommen, beratend und therapeutisch zur Seite zu stehen.

Das sind die Alltagsprobleme Erwachsener mit ADHS

Dass dieses Angebot Not tut, zeigt die Warteliste, die dort geführt wird. Wer hier vordringt, der bringt einen hohen Leidensdruck mit. Oftmals berichten Patienten davon, wie schwer sie sich tun, sich auf Dinge zu konzentrieren. Was in der Schule und Ausbildung meist dazu führt, dass sie schlechter abschneiden als andere, sorgt bei Berufstätigen für Ärger mit dem Chef. Flüchtigkeitsfehler häufen sich, viele ertrinken im Chaos und wissen sich nicht mehr zu helfen. Denn das Durcheinander setzt sich auch im privaten Umfeld fort: Wenn im Büro noch die Teamsekretärin versucht, Ordnung im Wust der Termine zu halten, ist es zu Hause die Partnerin, die den Alltag organisiert, weil es sonst nicht zu machen wäre.

"Das ist entscheidendes Charakteristikum einer ADHS-Erkrankung. Sie zeigt sich in allen Lebensbereichen", sagt Dr. Christian Mette. Er kennt die verzweifelten Schilderungen Betroffener, die in ihrer eigenen Zettelwirtschaft untergehen und unendlich viele Dinge ausprobiert haben, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Wenn sie in der Sprechstunde Hilfe suchen, sind viele an dem Punkt angekommen, an dem sie nicht mehr weiter wissen. "Manche hingegen, werden auch vom Kinderarzt hierher weiterverwiesen", so Mette. In diesen Fällen hat man die Diagnose beim Kind gestellt und empfiehlt den Eltern ebenfalls, sich auf die Erkrankung untersuchen zu lassen.

ADHS wird weitervererbt

Denn die Störung des Stoffwechsels bestimmter Botenstoffe im Gehirn ist vererbbar. Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass beinahe keine andere Erkrankung genetisch so dominant weitergegeben wird wie ADHS. Von 70 bis 81 Prozent ist die Rede. Den ersten Hinweis auf die genetischen Ursachen der Erkrankung fanden amerikanische Forscher im Jahr 2010. Kritiker sehen das Leiden allerdings als Modeerkrankung.

Diskutiert wird in Zusammenhang damit nach wie vor die Behandlung Betroffener mit Psychopharmaka. Besonders bekannt und auch umstrittten ist dabei der Wirkstoff Methylphenidat, der vielen unter dem Handelsnamen Ritalin bekannt ist und zur Förderung der Aufmerksamkeit verordnet wird. Eine aktuelle Auswertung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte zeigt, dass der Verbrauch dieses Medikaments hierzulande erstmals seit 20 Jahren nicht weiter angestiegen ist. Danach wurden 2013 bundesweit 1.803 Kilogramm Methylphenidat verbraucht. Ein Jahr zuvor waren es noch 1.839 Kilo. Auch das Wissenschaftliche Institut der AOK WidO bestätigt einen leichten Rückgang der Verordnungszahlen. In den zehn Jahren zuvor hatte sich der verdreifacht, was Experten unter anderem auf die verbesserten Diagnosemöglichkeiten und früher einsetzende Therapie im Kindesalter zurückführen. Daneben wird jedoch auch vehement diskutiert, inwiefern eine Fehl- und Übertherapie bezüglich der Verordnungszahlen eine Rolle spielt.

Die Risiken der medikamentösen Therapie

Neben dem Wirkstoff Methylphenidat ist auch seit 2005 auch der Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin in Deutschland zugelassen. Seine Wirksamkeit gilt jedoch als geringer, hält der WIdO- Arzneimittel-Report 2014 fest. Ein weitere Faktor, der sich auf die Verschreibungshäufigkeit auswirkt: Es ist extrem teuer und weist heftigste Nebenwirkungen auf, zu denen Krampfanfälle ebenso zählen können wie in seltenen Fällen Leberschäden und Selbstmord. "In einer deutschen Studie traten bei 70 Prozent der Patienten unerwünschte Wirkungen auf", ist dem Report zu entnehmen.

In vielen Kliniken setzt man im Kern der Therapie auf eine Psychotherapie, die im Einzelfall durch eine medikamentöse Behandlung begleitet wird. Wirkung zeigt das vor allem bei der Behandlung der Impulsivität und der Aufmerksamkeitsdefizite. Denn für ADHS-Kranke stellt es ein großes Problem dar, die Konzentration über eine längere Zeit hinweg gezielt auf etwas zu richten. Zu schnell schweifen sie wie ein wackelig auf einem Kugelgelenk montierter Scheinwerfer ab und folgen einem neuen Reiz.

So hilft die Verhaltenstherapie

"Vielen hilft dann das Erlernen von Achtsamkeitsübungen", erklärt der Essener Psychologe. Dadurch bekommen die zerstreuten Patienten erstmals überhaupt wieder ein Gefühl für Situationen, in denen sie abschweifen. "Automatische Prozesse werden wieder sichtbar. Das ist vergleichbar mit jemandem, der ein ganzes Jahr lang auf einer Autobahn auf der Linksspur mit Vollgas fährt. Der sieht die ein oder andere Ausfahrt nicht mehr", sagt Mette. Durch wahrnehmende Übungen gelingt es den Patienten, ihr Verhalten irgendwann besser reflektieren zu können und bei der Sache zu bleiben.

Finden kann man Hilfe für Erwachsene über das Zentrale ADHS Netz oder Netzwerk ADHS Deutschland e.V., einer übergreifend organisierten Selbsthilfegruppe. Dort finden Betroffene einen Überblick über regionale Angebote, Kliniken und Therapiemöglichkeiten. Wie lange sie dort Unterstützung in Anspruch nehmen, hängt vom Einzelfall ab. "Manchmal reicht es auch aus, die Diagnose sicher zu kennen. Nicht jeder nimmt für sich eine Behandlung in Anspruch", weiß Christian Mette aus der Essener Ambulanz.

(wat)
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