Sehnsucht nach der Versehrtheit "Bitte amputieren Sie mir mein Bein"

Hamburg · Die Medizintechnik tut alles, um Menschen nach Amputationen optisch und technisch möglichst perfekt ihre verlorenen Körperteile zu ersetzen und so den Verlust zu mildern. Manchmal aber läuft es umgekehrt: Menschen mit vollkommen gesunden Gliedmaßen wünschen sich nichts sehnlicher als das: "Bitte amputieren Sie mir mein Bein!" Das klingt irre. Doch die, die dieser Gedanke umtreibt, sind nicht verrückt.

 Was für die meisten eine grauenhafte Vorstellung ist — ein Bein zu verlieren — wünschen sich Menschen mit BIID sehnlichst.

Was für die meisten eine grauenhafte Vorstellung ist — ein Bein zu verlieren — wünschen sich Menschen mit BIID sehnlichst.

Foto: Shutterstock/Howard Klaaste

Wer diesen Wunsch hat, der ist allein. Solange zumindest, bis er in der Anonymität des Internets Gleichgesinnte findet, die dasselbe wollen: Vollkommen gesunde Gliedmaßen verlieren. Was für die meisten Menschen eine schicksalsschwere Beeinträchtigung wäre, stellt für Personen, die unter einer Körper-Integritäts-Identitäts-Störung (BIID) leiden, eine unvorstellbare Erfüllung dar.

Kleines Glücksgefühl durch vorgetäuschte Amputation

In heimlichen Stunden binden sie sich Zehen ab oder den Unterschenkel für Stunden so nach oben, dass es aussieht, als hätten sie ihn nicht mehr. Manchen verschafft es Erleichterung, sich heimlich so zu betrachten, andere zwängen sich derart zusammengeschnürt in Hosen hinein und suchen auf Krücken oder in Rollstühlen die fremde Öffentlichkeit.

Pretending nennt man das Vortäuschen von Amputationen. Die Betroffenen versuchen auf diese Weise zu imitieren, was in Deutschland nicht Wirklichkeit werden kann. Denn hier ist es wie in vielen anderen Ländern nicht möglich, sich gesunde Körperteile amputieren zu lassen. In ihrer Verzweiflung, das Problem lebenslang mit sich herumtragen zu müssen, suchen einige, die über die finanziellen Mittel verfügen, Chirurgen in Asien. Sie trennen ihnen das als überflüssig empfundene Körperteil im OP ab.

Chirurgen im Zwiespalt

Vor einigen Jahren machte der Arzt Robert Smith in Schottland von sich reden, weil er zwei Männern je eine Gliedmaße amputierte, ohne dass es dafür einen medizinischen Grund gegeben hätte. Leichtfertig, so erzählt er der britischen Zeitung The Guardian habe er es nicht getan. Lange habe er sich eingelesen in das Phänomen und seine Patienten — darunter auch einen deutschen Rentner — zu psychiatrischen Begutachtungen geschickt. Mehrere Kliniken verweigerten aus Angst vor negativer Publicity die Eingriffe und sagten die Operationen kurzfristig ab. Dann aber fanden sie statt. Im Jahr 1997 die eine und zwei Jahre später die zweite. Das warf große ethische und moralische Diskussionen auf, die darin mündeten, dass die Klinikleitung dem eigentlich auf Diabetes und periphere Gefäßerkrankungen spezialisierten Chirurgen weitere derartige Eingriffe untersagte.

Krankheit ohne Definition

Nicht nur in Schottland diskutiert man darüber. Das Thema entzweit Neurologen, Psychologen, Medizinern und Medizinethiker weltweit. Was es besonders schwierig macht: Auch wenn die Identitätsstörung einen Namen hat, ist sie nicht als Krankheit im Diagnostisch-Statistischen-Manual (DSM), dem Katalog psychischer Störungen, verzeichnet. Gemeinhin gilt BIID als seltenes Phänomen, das laut Neurologen Prof. Volker Faust, auch von der medizinischen Fachwelt erst seit rund zehn Jahren wahrgenommen wird. Geschätzte 5000 Menschen weltweit leiden darunter.

Meist seien es Männer, die den innigen Wunsch nach Amputation verspüren, sagt Prof. Erich Kasten von der Medical University in Hamburg. Solche, die beruflich erfolgreich sind und einen hohen Bildungsgrad besitzen. Er untersucht das seltene und auf Außenstehende verstörend wirkende Phänomen. Oft macht es sich bereits in der Kindheit bemerkbar. Betroffene berichten darüber, dass sie im Alter von sieben oder acht Jahren erstmals bemerkten, anders zu sein. Beim Erblicken eines verstümmelten Menschen mache sich ein Wohlgefühl breit — es komme sogar Neid auf. So verfolgt die Betroffenen dann lebenslang der Wunsch, den sie kaum einem anderen mitteilen können. Viele führen ein Doppelleben, sind einerseits treusorgender Familienvater und andererseits heimlich Behinderter.

Was löst die Identitätsstörung aus?

Wie es zu der psychiatrischen Erkrankung kommt, ist weitestgehend unklar. Einige Mediziner wie Richard Bruno vom Medical Center in New Jersey sehen als Auslöser mangelnde Zuneigung in der Kindheit. Seinem Erklärungsmodell nach versuchen die Betroffenen durch den übermächtigen Wunsch nach einer Amputation und damit verbundener Aufmerksamkeit und Zuwendung das unbewusst auszugleichen. Der deutsche Psychiater Prof. Erich Kasten hingegen erklärt, das abnorme Verhalten sei durch eine Hirnschädigung ausgelöst.

"Wir alle haben ein Körperbild im Gehirn gespeichert, also eine Vorstellung davon, wie unser Körper auszusehen hat. Dabei berechnet das Hirn ständig aus dem sensorischen Input, wo die Umwelt anfängt und wo sie aufhört", sagt er. Was nun bei Menschen mit BIID passiert, beschreibt er als eine Art Rechenfehler. Sie spüren ihre Gliedmaßen zwar, doch passen sie bei ihnen durch eine Störung in der Großhirnrinde, in der die Körperlandkarte produziert wird, nicht hinein. Folge dessen ist, dass sich die Menschen übervollständig fühlen und sich wünschen, das überflüssige Körperglied los zu werden.

Unfassbare Taten höchst Verzweifelter

Am häufigsten äußern Betroffene die Vorstellung, man möge ihnen das linke Bein bis oberhalb des Knies amputieren. Manche empfinden beide Beine als überflüssig oder Arme. Zu den seltenen Wunsch-Vorstellungen zählt der taub oder querschnittsgelähmt zu sein. Das tiefe Verlangen, diesen Zustand zu erreichen, quält die Erkrankten ein Leben lang. Manche so sehr, dass sie in Ermangelung anderer Möglichkeiten selbst Hand anlegen und sich schwere Infektionen zufügen, die eine Amputation erforderlich machen, zur Motorsäge greifen, eine Guillotinen bauen oder ihr Leben bei einer Schienen-Amputation durch den Zug riskieren.

Auch der Australier David Openshaw leidet so schwer unter seinem gesunden Unterschenkel, dass er ihn loswerden will. Wie vielen, die dieses Verlangen offen aussprechen, landet er beim Psychologen oder Psychiater. Diese können versuchen, durch Verhaltenstherapie oder Antidepressiva positiv Einfluss auf das ständige Grübeln und Schuld- oder Schamgefühle zu nehmen oder daraus entstehende Depressionen zu mildern, aber sie wischen den eigentlichen Dauergedanken nicht aus.

Versuche der Linderung

"Es gibt eine Studie, die zeigt, dass Patienten durch die Einnahme von Medikamenten in ihrer Situation besser zu Recht kommen und lernen, mit ihrem ständigen Drang besser umzugehen", sagt Prof. Erich Kasten. Er betreut auch das Portal www.biid-dach.org, das den höchst Verzweifelten ein Forum bietet, sich untereinander auszutauschen und in einem geschützten Raum offen über ihr Anliegen zu reden. Es bündelt die wenigen Studien, die es zu der Erkrankung gibt, die so monströs auf die Außenwelt wirkt, gibt Informationen für Angehörige und Betroffene. Damit ist sie in dieser Form einzigartig. Doch auch das stellt nur einen Strohhalm für die unter der Identitätsstörung Leidenden dar. Der Austausch im Forum, erleichtert, doch auch er beseitigt nicht den Wunsch behindert zu sein.

Der 29-jährige David Openshaw half die Psychotherapie nicht. Er wurde depressiv. Auch sein Suchen nach Hilfe in Foren, zeigte dem jungen Mann nur auf, wie schwer es ist, mit der Erkrankung zurecht zu kommen. Er las von den Phantasien anderer und davon, wie sie in fremden Städten mit hochgebundenen Beinen umherhumpeln, um dem Gefühl der Versehrtheit näher zu rücken. Dann liest er von einer Studie, die Neurologen in San Diego durchführten, um dem Phänomen auf die Spur zu kommen. Mit Hilfe von Stromstößen, die die Wissenschaftler durch das Bein schickten und Messungen im Hirn ließ sich schließlich genau sagen, wo die Empfindungen im Bein nachlassen.

In dem Wissen, nicht irre zu sein, aber unheilbar krank, legte Openshaw selbst Hand an und besorgte sich die Erlösung, von der er schon viele Jahre träumte. Er stellte sein Bein über mehrere Stunden in einen Eimer mit Trockeneis. Als seine Frau ihn findet, ist der Gewebeschaden irreparabel groß und das Bein muss amputiert werden. In Anbetracht solch drastischer — und immer wieder auftretender Fälle — ist Prof. Kasten trotz der allgemeinen Diskussion um die ethische Vertretbarkeit sicher: "Den Betroffenen hilft nur die Amputation wirklich."

(wat)
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