Über 20 Prozent der Deutschen betroffen Angststörung - die häufigste psychische Erkrankung

Düsseldorf · Angst rettet Leben. Ohne sie würden wir gefährliche Situationen falsch einschätzen. Manchmal gefährdet sie aber auch Leben. Dann nämlich, wenn sie übermächtig wird und Menschen in ganz normalen Situationen in den Ausnahmezustand versetzt. So wie der Sänger der Band Jupiter Jones, Nicholas Müller, bei dem die Furcht so übermächtig wurde, dass mehrere Gigs abgesagt werden mussten. Lesen Sie hier, wie sich krankhafte Angst zeigt und welche Ursachen sie haben kann.

Selbsttest – Leiden Sie unter einer Angststörung?
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Foto: Shutterstock/wavebreakmedia

Für Nicholas Müller hat die Flucht vor der Angst ein Ende. Mit seiner Konsequenz, die Band zu verlassen, rückt er eine Krankheit in den Fokus, von der er selber in einem bewegenden Brief an seine Fans schreibt, sie sei "eine ekelige Angelegenheit" und "viel weiter verbreitet als manch einer so denkt".

Angst, eigentlich ein natürliches Schutzsystem, das den Menschen in die Lage versetzt, Gefahren richtig einzuschätzen, persifliert sich selbst und führt bei manchen erst dazu, dass sie in Gefahr geraten und sich subjektiv in Gefahr fühlen, obwohl sie es nicht sind.

Das passiert, wenn wir uns fürchten

Jeder wird es kennen, das Gefühl, dass ihm das Herz bis zum Hals schlägt und die Kehle wie zugeschnürt ist. Zum Beispiel vor einer Prüfung oder wenn das Auto auf der nassen Fahrbahn ins Rutschen gerät. Das Gehirn schüttet massenhaft Stresshormone aus, die den Herzschlag und die Atmung beschleunigen. Das versetzt den Körper in die Lage fluchtbereit zu sein. Die Muskeln sind angespannt, der Organismus maximal leistungsfähig. Das hilft uns im Normalfall, solche Situationen gut zu meistern. Anders ist das bei Angstpatienten: Völlig normale Situationen wie eine Busfahrt verselbstständigen sich für sie und münden in einer für die Betroffenen als unkontrollierbar erlebten Situation. Denn wer mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren möchte, der kann kein Fluchtverhalten gebrauchen.

Das große Lexikon der Angststörungen
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Foto: Shutterstock/Sinisha Karisch

Was eigentlich von der Natur dazu eingerichtet wurde, uns vor Schaden zu bewahren, fügt manchen Menschen großen Schaden zu, weil sie sich in ein Gedankenkarussell verstricken, das die Hormonausschüttung zum falschen Zeitpunkt produziert. So kann der Gedanke ans Busfahren bei Menschen mit Platzangst schon ausreichen, um eine Paniksituation hervorzurufen. In einer Gruppe von Menschen zu sein, lässt Furcht aufkommen, die kaum bezwingbar ist.

Soziale Angststörung — Angst im Mittelpunkt zu stehen

Mit anderen Ängsten kämpfen Menschen mit einer sozialen Angststörung. Sie fühlen sich immer und überall beobachtet, stehen ungerne im Mittelpunkt und befürchten, sich lächerlich zu machen. Schon das gemeinsame Essen kann für sie zur Höchstanstrengung werden, bei der sie auf jede Handbewegung bedacht sind, damit nichts von der Gabel rutscht oder sie sich bekleckern.

Symptome wie Panikattacken, innere Unruhe, Schlafstörungen, Unausgeglichenheit oder auch körperliches Unwohlsein können das Leben aller Angstkranken stark beeinträchtigen. Oftmals haben sie den Hang besonders intensiv in sich hineinzuhorchen, ständig auf der Suche nach ersten Anzeichen von Angst, die sich dann automatisch und wie erwartet einstellen.

Platzangst — selbst auf großen Plätzen

Furcht kennt viele Formen: Angst vor Berührung, Unruhe beim Gedanken an erholsamen Schlaf, Sorge vor der Menschenansammlung bei einem Konzert, auch als Agoraphobie bezeichnet, machen Menschen das Leben mit seinen täglichen Aufgaben zur Hölle. Sie fürchten, aus Menschenmengen in Notsituationen nicht rechtzeitig herauszukommen, haben die übersteigerte Angst, die Luft in einem solchen Raum könne zu dünn werden. Neben dem Problem Bus oder Bahn fahren zu können, können aber auch Menschenansammlungen auf freien Flächen zum Problem werden.

Dauerndes Kopfkarussell

Eine andere Form ist die generalisierte Angststörung. Sie ist "die häufigste Angsterkrankung im hausärztlichen Versorgungbereich", so hält das Bundesgesundheits-Survey fest, das sich mit der Verbreitung von Angststörungen in Deutschland befasst. Insgesamt ist sie die häufigste psychische Erkrankung, so belegen auch Statistiken der Krankenkassen. Innerhalb eines Jahres tritt sie bei rund 14 Prozent der Deutschen auf. Die Betroffenen fallen häufig durch ihre ständig sorgenvolle Art auf. Sie erleben viele Dinge als bedrohlich, trauen sich häufig selbst wenig zu, haben ständig ein ungutes Gefühl. Herzklopfen, Schwitzen, Zittern und Atemnot sind auch hier die körperlichen Folgen des dauernden Kopfkarussells. In ihrer übersteigerten Angst erkennen die Betroffenen das eigentliche Problem oft selbst nicht mehr und geben beim Arzt mitunter Schmerzen oder Schlafstörungen als ihr Problem an. Experten sehen darin einen der Gründe dafür, dass eine generalisierte Angststörung so häufig übersehen wird.

Neben der Tatsache, dass vor allem Frauen von dieser psychischen Erkrankung betroffen sind, erläutert das Gesundheitssurvey, dass "nur ein kleiner Teil der Angstpatientinnen und —patienten richtig behandelt wird." Nur 34,4 Prozent der Betroffenen erhielten bei einer generalisierten Angststörung eine korrekte Diagnose. Nur weniger als zehn Prozent bekamen eine angemessene Therapie oder eine Überweisung zum Facharzt.

Ursachen — Gene und bittere Erfahrungen

Die Ursachen sind nicht genau bekannt. Man nimmt an, dass wie auch bei Depressionen neurobiologische Zusammenhänge eine Rolle spielen können, eigene schlechte Erfahrungen oder sogar traumatische Erlebnisse. Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang dem Mandelkern zu, der als emotionales Zentrum im Hirn auch für die Steuerung von Angstgefühlen zuständig ist. Löst eine bestimmte Situation Furcht aus, speichert er das ab. Ein ähnliches Ereignis kann dazu führen, dass er dann später Alarm auslöst und den Körper mit den Stresshormonen Adrenalin und Noradrenalin flutet.

Außerdem beobachten Wissenschaftler, dass die Anfälligkeit dafür in der Familie liegen kann. Leiden enge Familienangehörige unter einer solchen Störung, ist das Risiko selbst zu erkranken bis zu dreimal höher. Wissenschaftler konnten in verschiedenen Studien rund 30 Gene ausmachen, die mitverantwortlich für das Entstehen der psychischen Anfälligkeit verantwortlich sind.

Das Unkontrollierbare zu vermeiden ist falsch

Unter dem Gefühl verrückt zu werden oder auch sterben zu müssen entwickelt Angst eine furchtbare Eigendynamik. Wer jemals eine Panikattacke erlebt hat, der kennt die eigene Ohnmacht, die in der Panik vor erneuter unkontrollierbarer Furcht mündet. Instinktiv versuchen die Betroffenen, bestimmte Situationen zu vermeiden, um so angstbesetzte Momente zu umgehen. Mit entgegengesetztem Effekt. Denn durch das Entziehen vor der unliebsamen Situation wird der Angstseffekt beim nächsten Mal noch stärker. Manchen treibt das in die soziale Isolation. Er zieht sich immer mehr zurück und agiert schließlich nur noch in einem ganz engen Radius, in dem er sich sicher fühlt.

Wer einmal solche ausgeprägten Ängste entwickelt hat, der findet nicht mehr selber hinaus. Ohne Therapie wird die Erkrankung chronisch und meist dauerhaft bestehen bleiben oder gar zusätzlich eine Depression nach sich ziehen. Mit professioneller Hilfe hingegen kann man sein Problem bezwingen lernen. Die Betroffenen bekommen Rüstzeug mit auf den Weg, wie sie mit den belastenden Situationen zurecht kommen können. Da aber Symptome wie Herzrasen, Schweißausbrüche oder ähnliches auch auf körperliche Ursachen zurückgehen können, ist es wichtig, das zunächst diagnostisch auszuschließen. Schilddrüsenmedikamente oder eine koronare Herzkrankheit sowie eine Angina Pectoris könnten ähnliche Symptome verursachen.

So helfen Experten

Je früher eine Angststörung behandelt wird, desto besser sind die Aussichten auf eine dauerhafte Besserung. Mit kognitiver Verhaltenstherapie, also psychotherapeutischer Unterstützung, kann man den Angstkreis durchbrechen lernen. Der Therapeut hilft beim Aufspüren von Vermeidungsstrategien. Sind diese erst einmal entlarvt, geht es darum, sie zu entschärfen. Dazu werden die Betroffenen mit den belastenden Situationen konfrontiert und lernen unter professioneller Begleitung, damit umzugehen. Daneben erlenen viele Patienten zusätzlich Entspannungstechniken, die ihnen helfen, sich in Angstsituationen aktiv zu beruhigen und herunterzufahren. Bewährt hat sich vor allem die Progressive Muskelentspannung nach Jacobsen.

Medikamente kommen nur dann zum Einsatz, wenn es darum geht körperliche Symptome wie Herzrasen oder Schlafstörungen zu lindern oder auf Stoffwechselabläufe im Gehirn Einfluss zu nehmen. Das kann für manche Patienten die einzige Möglichkeit sein, zunächst aus der ständigen Angst herauszufinden oder Panikattacken mit Hilfe von Beruhigungsmitteln zu vermeiden.

Auch, wenn die Angst therapierbar ist, bleiben Angstpatienten ein Leben lang anfälliger für dafür. Aus diesem Grund ist es für sie wichtig, Strategien zu erlernen, die sie vor Rückfällen bewahren und sich in Krisensituationen rechtzeitig erneut Hilfe zu suchen.

(wat)
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