Das Zombie-Syndrom 17-Jährige hielt sich selbst jahrelang für eine Leiche

Düsseldorf · Cotard-Syndrom nennt man eine skurrile Wahnstörung, die Lebende glauben lässt, wandelnde Tote zu sein. Jetzt wurde der Fall einer heute 17-Jährigen bekannt, die drei Jahre lang sicher war mit einem toten, organlosen Körper durch die Welt zu irren.

Wie wandelnde Leichen kommen sich Menschen vor, die unter dem Cotard-Syndrom leiden.

Wie wandelnde Leichen kommen sich Menschen vor, die unter dem Cotard-Syndrom leiden.

Foto: Shutterstock/Annette Shaff

Haley Smith ist vierzehn Jahre alt, als sich ihre Eltern scheiden lassen. Sie wird damit nicht gut fertig. Das mag den Ausschlag für den Ausbruch einer Erkrankung gegeben haben, die Menschen in ein unwirkliches Leben führt: das eines Untoten. Cotard-Syndrom oder "nihilistischer Wahn" nennen die Psychiater das unheimliche Phänomen, das unter anderem durch die Wahnvorstellung gekennzeichnet ist, der eigene Körper sei organ- und blutlos oder verfaule bereits.

"Ich hatte das Gefühl, dass ich tot war"

In der "Daily Mail" berichtet die heute 17-Jährige: "Eines Tages, als ich Englischunterricht saß, hatte ich dieses wirklich seltsame Gefühl, dass ich tot war, und ich konnte es nicht loswerden." Sie suchte Rat beim medizinischen Dienst der Schule, doch dort konnte man nichts feststellen. In der Hoffnung, aus einem bösen Traum zu erwachen oder ihren unbestimmbaren Rausch auszuschlafen, legte sich der Teenager hin.

Doch die Vierzehnjährige wird das grausame Gefühl, zwischen Leben und Tod zu existieren nicht wieder los. Immer breiter machte sich in ihr stattdessen die Überzeugung, nicht mehr zu existieren. Ihr Körper schien der jungen Frau selbst wie tot, alle Interessen wie ausradiert. Hunger verspürte sie keinen mehr. Drei Jahre vegetierte sie zombiegleich im Zustand einer Halbtoten, bis sie nach einer langen Therapie ins Leben zurückkehrte.

Wie Mademoiselle X 1880 ihren untoten Zustand beschrieb

Erstmals beschrieb der Pariser Neurologe und Psychiater Dr. Jules Cotard 1880 dieses befremdliche Erkrankungsbild, das nach ihm benannt ist. Eine 43-jährige Patienten, die er Mademoiselle X nannte, hatte sich in seine Behandlung begeben und schilderte, wie das Leiden zwei Jahre zuvor mit einem Knacken im Rücken begonnen hatte, das bis in den Kopf gereicht habe.

Danach war sie zu der festen Überzeugung gelangt, kein Gehirn mehr zu besitzen, und wie die Psychiater Manfred Wolfersdorf und Anke Heidrich in dem Buch "Seltene Wahnstörungen" über das seltene Syndrom schreiben, auch "keine Nerven, keine Brust, keinen Magen und keinen Darm. Sie bestehe nur noch aus Haut und den desorganisierten Knochen des Körpers".

Was diese Patienten mit vielen Betroffenen nach ihr gemein hatte: Da sie als Untote umherwandelte, war sie sicher, keine Nahrung mehr zu benötigen. In Folge dessen drohen solche Menschen zu verhungern. Andere versuchen durch einen Suizid ihr Leiden zu beenden.

Diese Menschen sind besonders gefährdet

Wenn man auch bis heute nicht viel über das Cotard-Syndrom weiß, so gilt als sicher, dass eher Menschen mit psychiatrischen Störungen wie schweren Depressionen oder mit schizophrenen oder manischen Krankheitsbildern dafür empfänglich sind. Wie verbreitet die Krankheit genau ist, dazu geben zwei Studien Anhaltspunkte. Die Studien belegen aber selbst für diese Fälle nur eine geringe Häufung: Sie liegt unter einem Prozent. Wie weit verbreitet die Krankheit ist, ist unklar.

Eine chinesische Studie aus dem Jahr 1995 zeigt, dass rund 0,6 Prozent älterer Psychiatriepatienten Symptome des Cotard-Syndroms zeigen. Wiener Wissenschaftler fanden im Jahr 2013 heraus, dass etwas weniger als ein Prozent der von ihnen untersuchten Schizophreniepatienten entsprechende Merkmale aufwiesen.

Fälle, die in Zusammenhang mit neurologischen Erkrankungen wie Demenz, Epilepsie oder nach Schlaganfällen auftreten, legen nahe, es könne eine Störung der Hirnfunktionen dahinter stehen. Die Chance, das zu untersuchen, bekamen im Jahr 2013 die beiden Neurologen Adam Zeman von der britischen Universität Exeter und sein belgischer Kollege von der Universität Liège. Sie lernten einen 48-jährigen Briten kennen, der sich Graham nannte. Seine Geschichte ist in mehrfacher Hinsicht besonders skurril, denn sie beginnt damit, dass der unter schweren Depressionen Leidende seinen eigenen Suizid überlebt. Unter Einfluss seiner psychischen Erkrankung versuchte Graham sich mit einem Stromschlag in der Badewanne das Leben zu nehmen.

Acht Monate nach dem misslungenen Selbstmordversuch versetzte er seine Ärzte mit der Mitteilung in Erstaunen, ihre Tabletten könnten ihm nicht weiterhelfen. Er war sich sicher, sein Hirn in der Badewanne "frittiert" zu haben. Es war unmöglich, ihn rational zu erreichen und ihm klar zu machen, dass er dasitzend und atmend unmöglich hirntot sein könne. "Ich wusste nicht, wie ich ohne Hirn sprechen oder irgendetwas anderes tun konnte, aber ich war dennoch sicher, das ist keins hatte", so zitiert ihn die Wissenschaftszeitung "New Scientist". Fortan lebte der Mann mit einer Depersonalitätsstörung, die ihn vollkommen antriebslos werden ließ. Auch er beschrieb, in diesem Zustand kein Schlafbedürfnis und kein Bedürfnis zur Nahrungsaufnahme mehr zu verspüren.

Per Tomographie ein Blick in die Welt der Untoten

Dank Graham aber öffnete sich dann die Tür in seine tote Welt einen Spalt weit, denn er gab sein Einverständnis zu einem Hirnscan. Per Positronen-Emissions-Tomographie (PET) machte das Team um den britischen und belgischen Forscher die Stoffwechselvorgänge im Hirn sichtbar und stellte fest, dass in einzelnen Regionen der Stoffwechsel aktiver war als bei gesunden Patienten.

In anderen Teilen jedoch war er so gering wie bei Koma-Patienten oder Menschen, die sich in einer Vollnarkose befinden. Was die Wissenschaftler daran besonders verblüffte: Menschen in diesem Zustand haben normalerweise weder ein Bewusstsein, noch können sie kommunizieren.

Man vermutet, dass in den wenig aktiven Hirnregionen die Ich-Identität gebildet wird. Bei den Cotard-Patienten wirkt sich die geringe Aktivität dieses Hirnteils offensichtlich derart aus, dass sie keine Selbstwahrnehmung mehr haben, sich also tot fühlen. Auch der Bereich des Gehirns, der normalerweise für rationales Denken und das Überprüfen von Hypothesen zuständig ist, zeigte sich unterdurchschnittlich aktiv. Für die beiden Neurologen ist das eine mögliche Erklärung dafür, warum der 48-jährige Brite auch argumentativ nicht davon abzubringen war, dass er tot sei.

Versuche einer Therapie

Nicht immer gelingt es, die Betroffenen aus der Zwischenwelt zwischen Leben und Tod zurückzuholen. So wie bei Cotards Mademoiselle X, die mehrfach versuchte, sich anzuzünden, und schließlich zu dem Schluss kam, sie sei unsterblich. Belgische Wissenschaftler zeigten anhand der Daten hundert untersuchter Cotard-Fälle, dass mehr als die Hälfte der Betroffenen sicher seien, nicht sterben zu können.

Manchmal aber glückt es, den Betroffenen mithilfe von Psychotherapie und Medikamenten wieder Leben einzuhauchen. Der 17-jährigen Amerikanerin konnte man so helfen, ihren unwirklichen Zustand zu beenden. Auch Graham hat mit einer Therapie unter Gabe von Antidepressiva und Neuroleptika wieder ein Stück weit zurück ins Leben gefunden. In einem Interview für die Wissenschaftszeitschrift "New Scientist" sagte er: "Ich fühle mich nicht mehr so hirntot" und: "ich bin froh, dass ich lebe."

(wat)
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