1,8 Million Alkoholsüchtige in Deutschland Der schleichende Weg zum Alkoholiker

Düsseldorf · Jedes Jahr kommen rund 1200 Menschen zur Diakonie in Düsseldorf. Alle haben eines gemeinsam: Sie sind alkoholsüchtig. Anja Vennedey, Leiterin der diakonischen Beratungsstelle, erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion, wie Menschen zu Alkoholikern werden, warum es so schwer ist aufzuhören, und welche Therapie sich am meisten bewährt hat.

Der schleichende Weg zum Alkoholiker
Foto: shutterstock/thaumatr0pe

Frau Vennedey, laut der letzten Statistik sind rund zwei Millionen Deutsche alkoholabhängig. Wie werden Menschen süchtig?

Vennedey: "Sucht kommt natürlich nicht von einem Tag auf den anderen, sondern es ist ein schleichender Prozess, der sich über längere Zeit hinzieht. Vermehrt Alkohol zu trinken kann so etwas wie einen unbewussten Selbstheilungsversuch darstellen. Das heißt, dadurch zum Beispiel Druck, Anspannung oder negative Gefühle zu kompensieren. Wir sprechen hier auch von Erleichterungstrinken. Problematisch wird es dann, wenn derjenige beginnt den Alkohol bewusst einzusetzen, um seine Gefühle zu verändern. Wenn er also zum Beispiel nicht einschlafen kann, aber weiß nach dem vierten Bierchen geht es, und dann beginnt jeden Abend auf diese Methode zu setzen. Auch dabei wird man natürlich nicht direkt abhängig, aber mit der Zeit wird es eben kritisch. Zum einen weil der Konsum dann regelmäßig ist, zum anderen, weil die Alkoholmenge auf die Dauer auch nicht mehr ausreicht. Erst reichen vielleicht vier Flaschen, aber dann sind es eben plötzlich sechs.

 Anja Vennedey ist Leiterin der Sucht- und Beratungsstation der Diakonie Düsseldorf.

Anja Vennedey ist Leiterin der Sucht- und Beratungsstation der Diakonie Düsseldorf.

Foto: Susanne Hamann

Das heißt also, die Grenzen bei diesem Prozess sind fließend. Das macht es vermutlich auch für nahestehende Personen oft schwierig zu erkennen, ob jemand auf dem Weg ist süchtig zu werden, oder nicht. Ab wann kann man denn von einer echten Alkoholabhängigkeit sprechen?

Vennedey: "Ja, das stimmt die Grenzen zwischen Gefährdung, Missbrauch und Abhängigkeit sind tatsächlich fließend. Aber ein kritischer Punkt ist erreicht, wenn derjenige beginnt das Trinken zu verharmlosen oder auch zu verheimlichen. Dann kommt ein immer größeres Verlangen nach Alkohol hinzu und auch Kontrollverlust. Das heißt, ich nehme mir zwar vor nicht zu trinken, tue es aber dennoch. Viele steigen dann auch von leichtem Alkohol auf härteren um. Also von acht Bier auf zwei Flaschen Wein."

Dann ist man aber schon tief in der Suchtspirale gefangen.

Vennedey: "Natürlich wird es ab diesem Punkt immer schlimmer. Der Konsum beginnt gesundheitliche und psychosoziale Folgen zu haben. Die Gedanken am Tag kreisen immer mehr darum, wann man zwischendurch heimlich trinken kann, zum Beispiel auf der Arbeit oder bei Familienereignissen. Das wiederum führt dazu, dass das Privatleben und der Job immer mehr vernachlässigt werden. Außerdem werden Bauchspeicheldrüse, Leber und das Zentralnervensystem geschädigt, denn Alkohol ist ein Nervengift."

Aber müsste die Alkoholsucht an diesem Punkt nicht auffallen?

Vennedey: "Alkohol ist ein gesellschaftlich akzeptiertes Suchtmittel. Man kann also lange trinken, ohne das es auffällt, und ohne das die soziale Verelendung deutlich wird. Die Leute scheinen ja gut gelaunt, denn der Alkohol lässt sie vermeintlich das Leben besser ertragen. Zudem gibt es im Job immer wieder Situationen in denen das Trinken auch akzeptiert ist. Und, viele Familien tragen die Sucht mit, indem sie versuchen das Problem zu verstecken, oder sie machen es noch schlimmer, indem sie sehr großen Druck aufbauen."

In den vergangenen Jahren werden ja Themen wie Depression, Burnout und Drogenmissbrauch immer mehr Thema. Können Sie denn sagen das bestimmte Menschen oder Berufsgruppen eher zur Alkoholabhängigkeit tendieren als andere?

Vennedey: "Ich mache diesen Beruf jetzt seit 15 Jahren und in dieser Zeit habe ich mit Lehrern, Arbeitslosen, leitenden Angestellten und jungen Müttern gearbeitet. Die Sucht kennt keine sozialen Schichten. Aber was ich sagen kann ist, zum einen, dass sie häufiger dort vorkommt, wo mindestens ein Elternteil Probleme mit Alkohol hatte. Alkohol als Lösungsstrategie entsprechend schon in der Kindheit erlernt wurde. Zum anderen, dass die Fälle in den vergangenen Jahren immer komplexer wurden: die Klienten werden jünger, oft sind noch illegale Drogen mit im Spiel und immer mehr spielen psychische Erkrankungen wie etwa Depression eine Rolle."

Und wenn nun jemand zu Ihnen in die Einrichtung kommt, wie helfen Sie ihm dann?

Vennede: "Zunächst einmal geht es natürlich darum, dass derjenige wirklich anerkennt, dass er süchtig ist. Denn viele kommen zu uns, lassen sich beraten und verschwinden dann nochmal für ein halbes Jahr, bis sie wirklich so weit sind den Weg anzutreten. Wenn dieser Schritt geschafft ist, geht es darum eine klare Abstinenzentscheidung zu treffen."

Sie meinen damit, dass der Betroffene sich entscheiden muss, keinen Alkohol mehr anzurühren?

Vennedey: "Genau. Wissen Sie ich sage immer "Alkoholabhängigkeit ist in gewisser Weise sehr fair, denn man kann sie stoppen, indem man nichts mehr trinkt." Ich will das damit nicht verharmlosen. Die Betroffenen werden ihr Leben lang abhängig sein, aber sie können die Auswirkungen davon ganz bewusst kappen."

Das heißt aber im Umkehrschluss auch, das Alkoholiker wirklich nie wieder Alkohol trinken können, auch wenn sie schon lange trocken sind?

Vennedey: "Die meisten, die zu uns kommen, haben die Hoffnung, dass sie irgendwann wieder kontrolliert trinken können. Aber das ist eine Illusion. Die Sache ist, dass der Körper ein Suchtgedächtnis aufbaut, das schon aktiviert werden kann, wenn der Betroffene ein alkoholfreies Weizen trinkt, weil die damit verbundene Situation und der Geschmack die Sucht wieder hochholt. Das passiert oft nicht mit dem ersten Schluck, aber ich habe es auch schon erlebt, das Menschen nachdem sie acht Jahre trocken waren, rückfällig wurden, weil sie in einem schleichenden Prozess über Wochen wieder zum Alkohol kamen."

Welche Therapieform ist denn Ihrer Erfahrung nach die langfristig erfolgreichste?

Vennedey: "Wir setzen hier, sozusagen ganz altmodisch, auf eine Kombination aus Einzel- und Gruppengesprächen. So erkennen die Betroffenen zum einen, dass es auch anderen so geht wie ihnen, und sie bekommen eine Suchttherapie in der es ganz konkret darum geht aufzuarbeiten, warum sie trinken, in welchen Situationen und wie ihr Umfeld daran beteiligt ist. Man kann das in einer stationären Therapie machen in einer Tagesklinik, bei der die Klienten abends nachhause gehen oder berufsbegleitend. Wir bieten die beiden letzteren Formen an, und haben damit sehr gute Erfolge erzielt, weil die Menschen so nicht ihren Job für mehrere Monate aufgeben müssen, und auch Probleme, die mit Familie und Freunden aufkommen können, sofort als Teil der Therapie behandelt werden. Wichtig ist dafür allerdings, dass diejenigen ein einigermaßen stabiles Umfeld haben, das sie in dem Prozess unterstützen will, oder zumindest nicht behindert."

Können Sie etwa sagen, wie hoch Ihre Erfolgsquote ist?

Vennedey: "Nach einer ambulanten Therapie sind rund 75 Prozent der Klienten auch nach einem Jahr noch abstinent."

Der Rest wird rückfällig?

Vennedey: "Es gibt viele, die einen Rückfall haben, manche auch nach vielen Jahren noch. Man darf dabei eben nicht vergessen, dass es sich hier um eine chronische Erkrankung handelt. Und man darf die Leute dafür auch nicht verurteilen. Im Gegenteil, um so schneller derjenige seine Scham überwindet, dazu steht, was passiert und wieder zu uns kommt, um so besser. Denn lieber einen Tag rückfällig, als ein ganzes Jahr."

(ham)
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