Therapie bei Depressionen Die neue Form des alten Elektroschocks

Düsseldorf · Einem depressiven Patienten Strom durchs Hirn zu jagen, klingt grausam. Tatsächlich gilt die Elektrokrampftherapie, eine neue Form des alten Elekroschocks, inzwischen jedoch als letztes Hilfsmittel der modernen Medizin, schwer Depressiven zu helfen - und zwar mit Erfolg.

 Durch Stromschläge herbeigeführte Krampfanfälle sollen schwerst Depressiven helfen.

Durch Stromschläge herbeigeführte Krampfanfälle sollen schwerst Depressiven helfen.

Foto: Shutterstock/Tinydevil

Die Idee, einen psychisch Kranken mit Stromstößen ins Hirn helfen zu wollen, wirkt befremdlich. Und es wird noch unfassbarer: Ziel dieser medizinisch anerkannten Therapie ist das Auslösen eines epileptischen Anfalls. Unter Kurznarkose wird bei der Elektrokrampftherapie (EKT) durch einen kurzen elektrischen Reiz ein Krampfanfall herbeigeführt. Über eine Maske strömt neben dem Narkosemittel auch reiner Sauerstoff. Was aber genau im Hirn vor sich geht, ist noch ein Geheimnis.

Behandlung unter Todesängsten

Einen großen finsteren Schatten werfen erste Behandlungsversuche mittels Elektroschockverfahren auf die heute als Standardtherapie bezeichnete EKT. Erstmals versuchte sich im Jahr 1934 in einer Psychiatrischen Heilanstalt in Ungarn der Oberarzt Ungar Ladislaus von Meduna in der Möglichkeit, mittels herbeigeführter Krampfanfälle den Schalter im Hirn von Schizophrenen umzulegen und der Krankheit beizukommen. Er allerdings löste die gewünschten Anfälle durch die Kreislaufstimulanz Cardiazol aus, das er spritze. Mit heftigsten Nebenwirkungen für die Patienten: Die Chemikalie verödete häufiger gespritzt die Venen der Patienten und versetzte sie in Todesängste.

Vier Jahre später entschloss sich der Direktor der Neuropsychiatrischen Uniklinik in Rom dazu, Krampfanfälle bei schizophrenen Patienten mittels Elektroschock herbeizuführen. Er testete das Verfahren an Hunden, denen er eine Elektrode in den After schob und eine ins Maul. Dann schaltete er den Strom ein. Mehr als die Hälfte der Tiere überlebte den Versuch nicht, bis sein Assistent den tödlichen Grund erkannte: Das Herz lag in der Stromschleife. An Schweinen testete der Forscher im Schlachthof die Wirkung von Elektroschocks am Kopf und stellte fest, dass die Tiere so einen Stromschlag von 125 Volt überstanden. Von da an befestigten die Forscher die Elektroden am Kopf ihrer psychiatrischen Patienten. Anfänglich allerdings noch ohne Narkose. Und in mancher Psychiatrie gegen Hälfte des 20. Jahrhunderts oft gegen den Willen der Betroffenen.

Eine Therapie mit Image-Problem

Neben dieser schockierenden Historie dieser Therapieform mögen ebenso wie Filme wie "Einer flog übers Kuckucksnest" für das Image-Problem der EKT bis in die heutige Zeit hinein gesorgt haben. Zu sehr wirken Bilder nach wie die, in denen Hauptdarsteller des Kinofilms Jack Nicholson bei vollem Bewusstsein einer Zwangs-Elektrokrampftherapie unterzogen wurde. Beängstigend und für manchen vielleicht auch verstörend ist die Aussicht auf die Gabe von Mitteln zur Muskelentspannung, die vor der Behandlung zum Schutz der Muskulatur verabreicht werden. Ohne dies würde die medizinische Therapie an eine Hinrichtung auf dem Elektrischen Stuhl erinnern: Der Behandelte würde in wilde Zuckungen verfallen.

Genau im Moment des künstlich herbeigeführten epileptischen Anfalls setzt der Moment der Besserung ein. Unter der Befeuerung des Hirns schütten die Nervenzellen Signalstoffe aus, die als Nervennährstoffe die Fortexistenz neuronaler Verbindungen sicherstellen. Zu ihnen gehören Wachstumsfaktoren wie der Nerve Growth Factor (NGF) oder der Brain Derived Neurotrophic Factor (BDNF).

Warum die Elektrokrampftherapie hilft

Genau das ist es, was Depressiven fehlt: Sie haben weniger BDNF im Blut als Gesunde. In manchen Fällen kann der Mangel durch die Gabe von Antidepressivum ausgeglichen werden. Innerhalb nur einer Woche kann man so bewirken, dass der Spiegel dieses Signalstoffs steigt. Bei anderen hingegen passiert nichts. Wissenschaftler der Medizinischen Hochschule Hannover stellten fest, dass bei einigen Patienten, denen ein Antidepressivum hilft, die Konzentration des Signalstoffs nach einer Woche gestiegen war. Daraufhin untersuchten sie das für die Bildung von BNDF zuständige Gen verändert ist. In solchen Fällen wirkt das Antidepressivum nicht. Wohl aber die Elektrokrampftherapie.

Und auch in der Washington University of St. Louis kam man den Gründen für die heilsamen Elektroschocks auf die Spur. Wissenschaftler entdeckten dort, dass bestimmte Hirnbereiche bei depressiven Menschen stärker miteinander kommunizieren als bei Gesunden. Neurologen bezeichnen das als Hyperkonnektivität. Außerdem machten die Forscher im Hirn einen Punkt aus, den so genannten "dorsalen Nexus", der ihrer Auffassung nach eng verwoben ist mit dem Entstehen einer Depression. Sie fanden Hinweise darauf, dass diese Stelle möglicherweise so etwas wie einen Kurzschluss in der Denkzentrale erzeuge und folgerten daraus, dass es hilfreich sein könne, auf irgendeine Art die starke Kommunikation zwischen den Hirnarealen zu drosseln.

Das genau kann die Elektrokrampftherapie. Der britische Wissenschaftler Christian Schwarzbauer zeigte, in einem Vorher-nachher-Vergleich im Kernspintomografen, dass sich die Hyperkonnektivität der Hirnareale nach einer Krampfbehandlung stark reduzierte. Einziges Manko seiner Studie: Sie wurde lediglich an neun Patienten durchgeführt und ist aufgrund der geringen Datenlage zwar ein deutlicher Hinweis, aber würde weitere Untersuchungen erforderlich machen.

Hoffnung für Menschen, die sonst austherapiert sind

Ihren Wert bekommt die verrufene Therapieform dadurch, dass sie Menschen helfen kann, deren psychiatrische Erkrankung sie zum hoffnungslosen Fall für die Medizin macht. Als Behandlungsform kommt sie in Frage, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Sie kann Menschen helfen, denen durch Psychopharmaka nicht geholfen werden kann und bei denen mindestens zwei Therapeutika versagt haben. Ein Segen kann die sie sein für Patienten, bei denen aufgrund der Schwere der Erkrankung eine schnelle Verbesserung notwendig ist. Als letzte Hoffnung wird ebenfalls auf die EKT zurückgegriffen, wenn der Patient die medikamentöse Behandlung nicht verträgt, unter wahnhaften Depressionen, oder einer Psychose mit schwerer depressiver Verstimmung leidet oder von therapieresistenten Manien heimgesucht wird. Auch bedeutet sie Hilfe für Menschen, die von Katatonien, also lebensgefährlichen Verkrampfungen des gesamten Körpers, betroffen sind.

Für sie mag ein Hoffnungsschimmer sein, was von der breiten Öffentlichkeit bis heute als veraltete, inhumane und grausame Therapieform durch die Köpfe geistert. In einer Stellungnahme, die der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer im Jahr 2003 abgab, ist von rund 1000 Behandlungen im Jahr die Rede. Deren Experten rühmten das Verfahren als "eines der sichersten Behandlungsverfahren in Narkose überhaupt". Heute wird die EKT, von Medizinern auch Elektrokonvulsionstherapie genannt, nach Angaben der Brain Stimulation Group des Uniklinikums Bonn als Standardmethode in der Behandlung von schweren Depressionen angewandt. 70 bis 90 Prozent der Betroffenen könne damit geholfen werden, sagen die Psychologen dieser Facheinheit. In Bonn führt man jährlich rund 700 solcher Behandlungen durch. Würde es diese gewöhnungsbedürftige Therapiemethode nicht geben, käme dies einer ethisch nicht vertretbaren Einschränkung des Rechtes von häufig suizidal gefährdeten, schwerstkranken Patienten auf bestmögliche Behandlung gleich, so der Beirat der Bundesärztekammer.

Die Sorge um Nebenwirkungen

Trotz aller Erfolge sind jedoch die Nebenwirkungen gefürchtet, die diese in der Öffentlichkeit weithin unbekannte Behandlungsmethode mit sich bringen kann. So klagt ein Drittel der Patienten über Gedächtnisstörungen. In seltenen Fällen können diese über Wochen oder sogar Monate anhalten. Auftreten können zudem Spannungskopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, es besteht die Möglichkeit durch die Behandlung Migräneattacken auszulösen. Bei knapp einem Drittel der Patienten treten Nebenwirkungen vorübergehender Natur wie Sprach- und Bewegungsstörungen auf. Selten kommt es zu Todesfällen. Allerdings hauptsächlich bei Patienten, deren Herz vorgeschädigt ist. Diskutiert werden daneben auch strukturelle Hirnschäden. Auf die aber wollen die Wissenschaftler des Beirats der Bundesärztekammer keine Hinweise gefunden haben.

Das sind ähnliche Verfahren

Neben dem nun schon erprobten Verfahren etablierten sich zwei weitere, die ebenfalls über Stromstöße Einfluss auf Hirnareale nehmen. Es handelt sich dabei um die so genannte repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS), die ohne Narkose durchgeführt wird. Bei ihr kommt es nicht zum sonst erwünschten Krampfanfall. Zudem gibt es als Weiterentwicklung der rTMS die Magnetkrampftherapie (MKT), bei der wie bei der Elektrokrampftherapie ein epileptischer Anfall ausgelöst wird, um vorher definierte Hirnareale zu stimulieren. Dieses Verfahren könnte das der EKT auf Dauer ablösen, denn erste klinische Studien belegen das geringere Nebenwirkungsspektrum. Außerdem zeigte sich bislang, dass die Patienten schneller wieder orientiert sind, aufmerksamer waren und unmittelbar nach der Behandlung weniger Probleme mit dem Sprachfluss hatten.

Die Psychiater und Psychologen der Brain Stimulation Group geben die ersten kleinen Studien Anlass zur Hoffnung, Menschen mit Depressionen auf Dauer schonender helfen zu können. Vorteil der MKT ist, dass sie mit dem Manko einer ultima ratio nicht zu kämpfen hat. Damit könnte der Weg von ersten Forschungsversuchen und qualvollen Experimenten in einer versöhnlichen Therapie enden, die Patienten ein Hoffnungsschimmer sein kann, die auf andere Therapieformen wie Psychotherapie und Medikamente nicht ansprechen.

(wat)
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