Psychiater Manfred Lütz "Regelmäßige psychologische Untersuchungen für Piloten sind unsinnig"

Düsseldorf · Was trieb Andreas L. an, 149 Menschen mit sich in den Tod zu reißen? Psychiater Manfred Lütz vermutet, dass der Copilot den Entschluss zum Suizid erst gefasst hat, als er plötzlich allein im Cockpit war.

 Psychiater Manfred Lütz sprach mit unserer Redaktion.

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An welcher psychischen Erkrankung könnte Andreas L. gelitten haben?

Germanwings: Psychiater vermutet - Suizid-Entschluss nicht geplant
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Lütz Das kann man noch nicht genau sagen, weil wir nicht genug Informationen haben. Wir bewegen uns also im Bereich der Spekulation. Meiner Ansicht nach handelt es sich nicht um ein Amokphänomen, denn es fehlt die unmittelbare Aggression gegen Menschen und auch nicht um einen klassischen erweiterten Suizid. Dabei nimmt zum Beispiel eine schwer depressive Mutter ihre Kinder "aus Liebe" mit in den Tod, da sie in ihrem Wahn meint, auch ihren geliebten Kindern dieses Leben nicht zumuten zu können. Nach dem, was ich bisher gehört habe, hat Andreas L. seine Tat aber nicht geplant. Ich könnte mir vorstellen, dass er in dem Moment, als sein Kollege auf die Toilette ging, die Tür hinter dem Captain zuschlug und er allein im Cockpit war, einen depressiven Raptus erlebt hat. Das heißt, er hat plötzlich beschlossen, sich umzubringen. Das kommt bei depressiven Patienten in seltenen Fällen vor.

Was spricht aus Ihrer Sicht dafür, dass die Tat nicht lange geplant war?

Lütz Wenn er die Tat geplant hätte, hätte er versucht, den Piloten dazu zu bringen, das Cockpit zu verlassen. Das hat er aber nicht getan. Und der Toilettengang eines Piloten während eines vergleichsweise kurzen Fluges ist nicht sehr wahrscheinlich. Außerdem spricht gegen eine längere Planung, dass er offensichtlich vorher einen Arzttermin wahrgenommen hat, das tut man in der Regel nicht, wenn man bereits den Entschluss zum Suizid gefasst hat. Im Übrigen ist der Hinweis des Staatsanwalts, das Gespräch zwischen den Piloten vorher sei "vollkommen normal" gewesen, ein Hinweis darauf, dass man wahrscheinlich auch von außen selbst bei großer Sorgfalt die Suizidalität nicht bemerken konnte.

Sie denken, der Moment des plötzlichen Alleineseins im Cockpit hat die Tat ausgelöst?

Lütz Ja, als die Tür zuschlug, hat er sich möglicherweise gesagt: Jetzt könnte ich Schluss machen. Und in diesem Moment war er psychologisch alleine in diesem Cockpit. Menschen in dieser Lage haben dann oft einen Tunnelblick, denken nur noch an das eine Ziel des Suizids und vergessen alles um sich herum. Darum hat der Copilot womöglich auch nicht mehr auf das Klopfen des Captains reagiert.

Hätte ein Psychiater diesen Verlauf verhindern können?

Lütz Nein, in jeder psychiatrischen Klinik geschehen solche Suizide in seltenen Fällen und da sind die Menschen umgeben von Fachpersonal.

Psychiater unterliegen ja der Schweigepflicht. Wie sollte ein Arzt handeln, wenn er einen Patienten hat, der in einem derart verantwortungsvollen Beruf ist wie ein Pilot und starke Anzeichen einer Depression zeigt?

Lütz Das ist schwierig. Wenn ein Arzt den Eindruck hat, sein Patient gefährde Menschen, dann hat er das Recht, die Schweigepflicht zu brechen. Aber bei einem Raptus gibt es eben im Vorfeld keinen Hinweis, darum geschehen solche Fälle ja selbst in Kliniken.

Andreas L. hat seine Krankheit vor seinem Arbeitgeber verheimlicht, verschlimmert das den Krankheitsverlauf?

Lütz Das kann manchmal sein. Deswegen brauchen wir mehr Aufklärung. Ich habe ja das Buch geschrieben, "Irre! Wir behandeln die Falschen", damit in der Öffentlichkeit das Verständnis für psychische Erkrankungen wächst. Vielleicht wäre dann auch ein Robert Enke bereit gewesen, seinem Trainer zu sagen: Hör mal, ich habe eine Depression, das ist gut behandelbar, ich bin in ein paar Monaten zurück.

Kann man der Lufthansa einen Vorwurf dafür machen, dass sie diesen Piloten überhaupt angestellt hat?

Lütz Überhaupt nicht. 30 Prozent der Deutschen haben irgendwann im Leben mal eine psychische Erkrankung, solche Menschen von allem auszuschließen, wäre absurd. Und alle Piloten regelmäßig psychologisch untersuchen zu lassen, ist unsinnig. Einen Raptus kann man nicht voraussehen, damit müssen wir uns abfinden.

Der Voice-Rekorder verzeichnet ja bis zuletzt das ruhige Atmen des Copiloten. Hätte der Entschluss, sich das Leben zu nehmen, ihn nicht in Erregung versetzen müssen?

Lütz Nein. Für den Kranken ist dieser Entschluss eine Erleichterung. Wenn das Personal auf einer psychiatrischen Station meldet, einem depressiven Patient gehe es plötzlich besser, dann kann das für den Psychiater ein Alarmsignal sein. Denn oft kehrt bei Depressiven zwar der Antrieb zurück, aber ihre Erkrankung ist nicht vorüber, dann sind sie hoch selbstmordgefährdet. Das führt dann zunächst zu großer Unruhe, wenn sie aber erst den Entschluss gefasst haben, Suizid zu begehen, kehrt Ruhe ein. Die Tatsache, dass der Copilot gleichmäßig geatmet hat, bestätigt eher, dass er sich im Cockpit psychologisch alleine fühlte. Und die Menschen im Flugzeug möglicherweise gar nicht mehr wahrnahm.

Welche Konsequenzen würden Sie nach jetzigem Stand aus dem Geschehenen ziehen?

Lütz Ich glaube, dass die amerikanische Regelung, wonach sich im Cockpit immer zwei Personen aufhalten müssen, sicher für solche Fälle präventiv wirken würde.

(dok)
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