Ketamin — Droge und Narkosemittel Wie eine Partydroge bei Depressionen helfen soll

Düsseldorf · Verzweifelt ringt die Wissenschaft um eine zuverlässigen Hilfe für Menschen, die an schweren Depressionen leiden. Denn nicht allen kann mit herkömmlichen Antidepressiva geholfen werden. Nun boomt der Einsatz eines nicht zugelassenen Mittels, das Suizidgedanken innerhalb weniger Stunden vertreiben soll.

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Foto: Shutterstock/Themalni

Die Erfolgsmeldungen überschlagen sich: Ketamin soll — intravenös verabreicht — innerhalb von 40 Minuten bis zu weniger Stunden Depressionen vergehen lassen. Menschen, die seit 20 Jahren täglich mit sich und der Möglichkeit haderten, ihr Leben mit einem Suizid zu beenden, erleben von jetzt auf gleich eine nicht mehr gekannte Lebensqualität, heißt es. Sie könnten die Welt wieder mit anderen Augen sehen, die Schwermut falle einfach ab, es sei wieder Platz für Freude über Kleinigkeiten.

Hoffnung für therapieresistente Patienten

Je früher man es einsetze, desto besser seien die Erfolgsaussichten. Mit herkömmlichen Antidepressiva erreicht man diesen Zustand im besten Fall erst nach mehreren Wochen Durststrecke und regelmäßiger Medikamenteneinnahme. Für die Betroffenen ist das ein kräftezehrendes Dilemma, zumal sich manchmal der Stimmungsaufheller nach einigen Wochen als Niete erweist und ein zweiter oder gar mehrere weitere her müssen. Einige Patienten erreichen auf diesem Wege nie eine Linderung, denn sie sind therapieresistent.

Das Pharmaunternehmen Naurex spricht von 45 Prozent schwer Depressiver, die man über derzeit vermarktete Antidepressiva nicht adäquat behandeln könne. Es hat ein Interesse daran, die Situation besonders schwarz zu malen, denn diese Firma arbeitet an der Entwicklung eines Medikaments mit dem vielversprechenden Namen Glyx-13. Es soll ähnlich wie Ketamin wirken. Gerade hat es die ersten Wirksamkeitstests an rund 400 Patienten bestanden. In der Studienphase konnte es der Hälfte der Betroffenen helfen.

Im nächsten Jahr soll das umstrittene Medikament in die Phase-3-Studie gehen, in der untersucht wird, ob die neue Therapieform bereits etablierten Arzneien überlegen ist. Besteht das Mittel diese Tests erfolgreich, könnte eine Zulassung durch die amerikanische Food and Drug Administration für das Jahr 2019 erwartet werden.

Einsatz ohne Zulassung

Einige Ärzte und Patienten allerdings warten nicht auf die pharmazeutische Industrie. Denn da der Wirkstoff bereits seit langer Zeit für den Gebrauch in der Anästhesie zugelassen ist, vertraut man auf den Nutzen des Medikaments.

Es war der amerikanische Psychiater John Krystal von der Yale University, der bei der Behandlung von schizophrenen Patienten bemerkte, dass sich Ketamin positiv auf ihre depressive Stimmung auswirkte. Es folgten verschiedene Studien, die das Phänomen genauer unter die Lupe nahmen. Immer wurde die durchschlagend schnelle Wirkung dokumentiert und das bei einer Dosis, die die in der Anästesie weit unterschreitet.

So wirkt Ketamin auf das Gehirn

Inzwischen weiß man, dass Ketamin seine Wirkung erzielt, indem es die Glutamat-Rezeptoren im Gehirn blockiert. Glutamat ist als der wichtigste Neurotransmitter bekannt. Er sorgt für die Kommunikation zwischen Nervenzellen und dem zentralen Nervensystem. Das Blockieren der Rezeptoren im Hippocampus und im sogenannten präfrontalen Cortex sorgt dafür, dass der Neurotransmitter länger wirken kann und die Informationsvermittlung im Gehirn andere Wege wählt.

Experten kritisieren, dass man angetrieben von der Hoffnung auf Hilfe für psychisch Schwerkranke in immer mehr Kliniken bereit sei, mit der Gabe von Ketamin zu experimentieren. Sie sehen darin eine reale Gefahr für die so behandelten Patienten. Man wisse noch zu wenig über die Langzeitwirkung des Medikaments, das zudem als Narkosemittel in einem ganz anderen Zusammenhang eingesetzt werde.

Nebenwirkungen, die den Einsatz nur in Notfallmedizin zulassen

Kritisch sieht auch der amerikanische Medizinethiker Dominic A. Sisti den Rückgriff auf diesen Wirkstoff. Man biete ausgerechnet einer Bevölkerungsgruppe die Behandlung mit einem fraglichen Mittel an, die verzweifelt genug seien, die Risiken einer experimentellen Therapie nicht abwägen zu können, sagt er der "New York Times". Denn neben den erwünschten Effekten kann das Mittel auch Herzfrequenz und Blutdruck in die Höhe treiben, Schwindel auslösen und sich ungünstig auf die Atmung auswirken.

Beim Narkoseeinsatz sind nach dem Erwachen aus der Betäubung Halluzinationen oder Wahnvorstellungen als Nebenwirkung bekannt. "Aufgrund dieser Nebenwirkungen beschränkt sich der Einsatz von Ketamin in der Regel auf die Notfallmedizin", so die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA).

Nebenwirkungen, die aus Drogengebrauch bekannt sind

Weitere Risiken sind aus dem Gebrauch des Wirkstoffs in der Drogenszene bekannt. Unter dem Namen Special K, Vitamin K, Kate oder einfach nur "K" wird der Wirkstoff auch als Partydroge meist ähnlich wie Koks gesnieft, jedoch auch geraucht oder gespritzt. Daher weiß man, dass die Einnahme die Gehirntätigkeit einschränken oder ein Nahtoderlebnis auslösen kann. Die Konsumenten beschreiben dann das Gefühl, ihren eigenen Körper zu verlassen und mit der Umwelt zusammenzufließen.

In diesem Zusammenhang beschreibt die BZgA Risiken wie die einer schizophrenen Psychose, zeitweiliger Bewegungsunfähigkeit, Angstzuständen sowie eines stark reduzierten Schmerzempfindens. Dokumentiert sei ein Fall, in dem eine Person schwerste Verbrennungen erlitten hat, weil sie unter Ketamin das Bewusstsein verloren, mit dem Gesicht auf einen Grill gefallen sei und dort liegen geblieben sei.

Die Befürworter des sogenannten Off-Label-Use des noch nicht zugelassenen Mittels halten dem entgegen, dass es sich bei den damit behandelten Patienten um Personen handle, bei denen keine andere Therapie anschlage und die häufig ein hohes Suizidrisiko mitbrächten. Unter dieser Sichtweise mag sich die Risiko-Nutzenabwägung ähnlich verschieben wie im beim Einsatz von Elektrokrampftherapien bei der Behandlung von Schwerstdepressiven. Auch diese ist sehr umstritten. Alternativ kann schwer Depressiven nur mit einem Hirnschrittmacher geholfen werden, einem Neurochip, der ins Gehirn gesetzt wird.

Berliner Charité testet Ketamin in einer Studie

Forscher der Berliner Charité haben Ketamin nach Deutschland geholt, um es bei therapieresistenten Depressionen einzusetzen. In einem Informationsblatt beschreiben sie die experimentelle Stellung des Verfahrens, das nur in Ausnahmefällen und in ausgewählten Behandlungszentren durchgeführt werden sollte. Dort sieht man das Mittel, das derzeit als Therapeutikum bei der Behandlung von Depressiven noch nirgends eine Zulassung hat, als Chance für schwer kranke Patienten, die sonst nur durch Elektroschocks oder einem Chip im Gehirn darauf hoffen können, Linderung zu erfahren.

Wie eine zulässige Therapie mit dem als Partydroge bekannten Mittel aussehen könnte, steht derzeit noch in den Sternen. Denn bei der Anwendung am Menschen hat sich bereits gezeigt, dass ein Absetzen innerhalb weniger Tage zum Rückfall führt.

(wat)
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