Schutz vor Kindesmisshandlung Wenn Erziehung keine Privatsache mehr ist

Düsseldorf · Sechs Wochen war Baby Ben aus Mönchengladbach alt, als sein Vater ihn erstickte. Der Fall ist das aktuellste Beispiel für etwas, das in Deutschland immer wieder vorkommt: schwere Kindesmisshandlung. Muss der Staat sich früher einmischen, wenn Eltern offensichtlich überfordert sind?

 Kleiner Junge mit Teddy (Symbolbild).

Kleiner Junge mit Teddy (Symbolbild).

Foto: Shutterstock/Paul Biryukov

Geliebt und behütet, so sollte ein Kind aufwachsen. Doch nicht alle haben dieses Glück. Viele Minderjährige und sogar Säuglinge sind von Gewalt bedroht - oft durch ihre eigenen Eltern.

Einzelfälle sind das nicht. Allein im Jahr 2016 wurden laut Kriminalstatistik in Deutschland 4204 Kinder körperlich misshandelt. 133 wurden getötet. In 78 Fällen blieb es bei einem Tötungsversuch. Laut Schätzungen kommt auf jeden solchen Fall einer, der unerkannt blieb.

Aber wie kann es überhaupt so weit kommen? Tun die Jugendämter genug, um das Kindeswohl zu sichern? Und wie sehr darf sich der Staat einmischen in Familien, wenn es entsprechende Alarmsignale gibt?

So schreitet das Jugendamt ein

"Es gibt zwei Situationen, in denen das Jugendamt aktiv wird", sagt der Leiter der sozialen Dienste vom Jugendamt in Düsseldorf. Zum einen können sich Eltern selbst melden und nach Hilfe fragen. Zum anderen können Außenstehende dem Jugendamt einen Hinweis geben. Das kann der Kinderarzt sein, der einen Verdacht hat, das Krankenhaus oder Menschen im Geburtsvorbereitungskurs.

Geht so ein Hinweis beim Jugendamt ein, werden die Eltern meist zu einem Gespräch eingeladen. Nur im Notfall geht ein Mitarbeiter direkt nach Hause und sieht nach dem Rechten. Laut Kinder- und Jugendpsychiatrie Düsseldorf liegen allerdings nicht selten Wochen zwischen einem Hinweis und der Reaktion des Jugendamtes. Zeit, in der betroffene Kinder weiter leiden müssen.

Auch die Gesprächseinladung ist zunächst nicht verpflichtend. Es kann also sein, dass das Jugendamt mehrfach schreiben, vielleicht sogar das Familiengericht einschalten muss, um die Eltern zu Gesicht zu bekommen. Findet das Gespräch dann statt, muss geklärt werden, was die Eltern brauchen. Als besonders erfolgreich gilt die sogenannte Familienhilfe. Das ist eine Hebamme oder Kinderkrankenschwester, die den Eltern für eine bestimmte Stundenzahl pro Woche hilft. Sie erklärt, wie man Kinder füttert, pflegt und mit ihnen redet. Inzwischen ist das in den meisten Städten Standard.

Auch das Mutter-Kind-Heim ist eine Option. Dort ziehen Mütter mit ihren Babys ein, die eine intensivere Betreuung brauchen. Wollen die Eltern das nicht freiwillig, kann das Jugendamt ein Familiengericht einschalten. Neben Unterstützung bei der Betreuung ordnet das Gericht meist auch eine Therapie für die Eltern an. Ist die Situation für das Kind nicht auszuhalten, kann auch angeordnet werden, dass das Kind für ein paar Monate in eine Pflegefamilie kommt. Und manchmal hilft nur eine Unterbringung im Heim.

Werden Eltern genügend geprüft?

Für manchen mag das nach wenig Spielraum für den Staat klingen. Adoptiveltern werden über Monate auf ihre Tauglichkeit für das Kind geprüft. Paaren, die auf natürlichem Wege ein Kind kriegen - egal, ob es ein Wunsch war oder das Kondom gerissen ist - wird in Sachen Kindeserziehung hingegen blind vertraut.

Kein Wunder, dass sich Josef Kahl, Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, für mehr Kontrollmechanismen einsetzt. Denn es gibt konkrete Risikofaktoren, die darauf hinweisen, dass es in einer Familie zu Problemen kommen könnte: Drogen- und Alkoholabhängigkeit, Arbeitslosigkeit und Armut sind solche Signale, aber auch, wenn die Eltern sehr jung sind.

Solche Mütter und Väter würde Kahl gerne rund um die Geburt erfassen, damit sie Unterstützung bekommen können. Doch es gibt kein Kontrollinstrument, das absolute Sicherheit garantiert. "In einem Fragebogen könnten Eltern lügen. Bei einem Hausbesuch von Experten ist nicht gesichert, ob sie nicht völlig anders reagieren, wenn sie mit dem Kind alleine sind", sagt Kahl. Spontane Überforderung kann am Ende jeden treffen.

Wenn Psychiater herausfinden wollen, wie die Verbindung zwischen Mutter und Kind ist, beobachten sie sie für mehrere Stunden im Umgang miteinander. Blick- und Körperkontakt sowie die Sprache beim Spielen werden dann untersucht. "Aber das kann man nicht verpflichtend machen. Wenn die Mütter sich verweigern oder nur halbherzig mitmachen, bringt diese Untersuchung nichts", sagt Petra Walger, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Düsseldorf.

Elternrecht ist im Grundgesetz verankert

Aber ist es überhaupt nötig, dass der Staat mehr oder schon früher eingreift? "Ich bin der Meinung, dass das bestehende System ausreichend ist", sagt Gabriele Bos, seit 15 Jahren Familienrichterin in Köln. "Wir haben genügend Möglichkeiten, um Kinder zu schützen, wenn ein begründeter Verdacht für Kindesmisshandlung besteht." Alle Eltern schon während der Schwangerschaft oder direkt nach der Geburt zu einem Erziehungskurs zu verpflichten, davon hält Bos nichts. "Man kann nicht einfach allen Eltern unterstellen, dass sie einen schlechten Job machen werden. Und das Elternrecht hat in Deutschland eine sehr hohe Stellung."

Tatsächlich ist das sogenannte Elternrecht im Grundgesetz verankert. "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht", heißt es in Artikel 6. Ebenso wie die Achtung der Menschenwürde und die Meinungsfreiheit gehört das Elternrecht zu den höchsten Grundwerten, die es in Deutschland gibt. Soll der Staat Eltern mehr reinreden, muss der Bundestag erst eine Entscheidung treffen. Umgedreht haben Eltern aber auch eine Pflicht, das Kindeswohl zu gewährleisten. Wer sich nicht um das Wohl seines Nachwuchses kümmert, muss damit rechnen, ihn zu verlieren. Das steht im Sozialgesetzbuch. Wann Recht und wann Pflicht überwiegen, ist in der Praxis jedoch nicht immer eindeutig.

Woran erkennt man, ob ein Kind misshandelt wird?

Wird ein Kind wirklich geschlagen oder emotional vernachlässigt? Und ab wann sollte man das Jugendamt einschalten? Das sind Fragen, die nicht so leicht zu beantworten sind. Lehrer und Kita-Mitarbeiter werden inzwischen darauf geschult, die Anzeichen zu erkennen. Für Nachbarn und Verwandte ist das schwieriger. "Dabei ist es sehr wichtig, dass sie sich melden, wir haben sonst keine Möglichkeit, aktiv zu werden", sagt Stephan Siebenkotten-Dalhoff, Abteilungsleiter der Sozialen Dienste beim Jugendamt in Düsseldorf. Weint ein Kind in der Nachbarwohnung unaufhörlich, streiten Eltern übermäßig viel oder wirkt die Stimmung oft sehr aggressiv, sollte man über einen Anruf beim Jugendamt nachdenken.

"Wir haben leider immer noch den Ruf, dass wir den Eltern ihre Kinder wegnehmen. Dabei sind wir froh um jedes Kind, dass in seiner Familie bleiben kann", sagt Siebenkotten-Dalhoff. Das liegt daran, dass das eigene Zuhause für die Kinder immer noch der beste Platz zum Aufwachsen ist. Außerdem kostet ein Heimplatz die Stadt bis zu viermal so viel wie einzelne Hilfsmaßnahmen für Familien.

Damit die aber wirksam sind, müssen sie freiwillig in Anspruch genommen werden. "Die Bindung zum Kind kann man nicht erzwingen", sagt Anne-Marie Eitel, Leiterin der Beratungsstelle für Familien mit Gewalterfahrung der Diakonie in Düsseldorf. Zwar kennt auch sie Fälle, in denen der Druck vom Familiengericht notwendig war, um Veränderungsbereitschaft bei den Eltern zu bewirken. Aber Standard sollte das nicht sein. "Das erhöht auch die Gefahr, dass den Eltern wieder die Sicherung durchknallt, wenn sie mit den Kindern alleine sind."

Diese Hilfe brauchen Eltern wirklich

Vielleicht geht es also nicht darum, dass der Staat mehr eingreift, sondern darum, dass es Eltern möglichst leicht gemacht wird, Hilfe anzunehmen. Deutschlandweit als Vorzeigemodell gilt dafür das Dormagener Modell. Vor zehn Jahren wurde es in der gleichnamigen Stadt eingeführt und wegen seinem Erfolg in vielen anderen Städten übernommen, darunter in Düsseldorf.

Kern des Modells sind die sogenannten Familienzentren. Weil Eltern dort ohnehin hingehen, sind sie in der Regel an Kitas angeschlossen. So werden sie nebenbei auf Angebote wie Erziehungsberatung, Kochschule oder Mütterabende aufmerksam gemacht. Darüberhinaus gibt es Bildungsangebote und Betreuung für ältere Kinder, deren Eltern Probleme mit der Kindeserziehung haben. "Wir wollen die Chancen von Kindern verbessern und die Eltern da abholen, wo sie sind", sagt Martina Herrmann-Biert, Leiterin des Jugendamtes in Dormagen. "Denn so können wir auch die Inobhutnahmen gering halten."

Mehr Zwang oder Druck vom Staat ist also nicht notwendig, da sind sich die Experten einig. Verbesserungsvorschläge für das Jugendamt gibt es unter Psychiatern, Sozialarbeitern und Kinderärzten in Düsseldorf aber sehr wohl: Mancher wünscht sich eine bessere telefonische Erreichbarkeit. Andere sagen, die Vernetzung zwischen Jugendamt, Schulen, Kitas und Kinderärzten sei nicht gut genug. Noch fielen zu viele misshandelte Kinder durch das Netz, weil diese Instanzen sich nicht genügend austauschen. Andere wünschen sich ein mobiles Einsatzteam vom Jugendamt, das im Notfall auch nachts an der Haustür einer Familie klingeln kann.

Herrmann-Biert aus Dormagen wiederum hat eine ganz eigene Vorstellung von Hilfsmaßnahmen: Jede Kita müsste zwei Plätze pro Halbjahr für überforderte Mütter bereitstellen. Die würden dort täglich oder mehrfach pro Woche mitlaufen und lernen, wie man mit den Kleinen umgeht.

Grundsätzlich aber gilt: Kindeswohl ist Gemeinschaftssache. Am Ende müssen alle mithelfen: Hebammen, Kinderärzte, Lehrer, Freunde, Verwandte und Nachbarn. Alle müssen hingucken und hinhören, ob Anzeichen von Vernachlässigung oder Misshandlung zu erkennen sind. Das darf keine Hexenverfolgung werden. Denn Eltern sind auch nur Menschen. Und Kinder sind nicht immer nur ein Segen.

Siebenkotten-Dalhoff jedenfalls weiß, dass viele Eltern sogar froh sind, wenn von außen jemand für Unterstützung sorgt, und sie sich selbst nicht die Blöße geben müssen. Am Ende zählt schließlich nur eines: Hilfe zu bekommen, bevor das Kind leiden muss.

(ham)
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