Psychologie Sechs gute Gründe für Chaos

Düsseldorf/Heidelberg · Das Chaos hat einen schlechten Ruf. Wer nicht aufräumt, gilt als unstrukturiert. Deshalb bemühen sich die meisten doch immer wieder, Ordnung in ihre Kleiderschränke, auf den Schreibtisch und die Flurkommode zu bringen. Dabei hat Unordnung entscheidende Vorteile.

 Chaos hat entgegen seines schlechten Rufs auch einige Vorteile.

Chaos hat entgegen seines schlechten Rufs auch einige Vorteile.

Foto: Shutterstock/Jat306

Ordnung ist das halbe Leben — schon in der Kindheit hat man uns eingetrichtert, das Zimmer aufzuräumen. Heute macht es im Büro gelegentlich der Chef, indem er allgemein daran erinnert, dass allzu viel Papier oder schmutzige Tassen und Löffel auf dem Schreibtisch weder bei Kollegen noch bei Gästen gut ankommen. Was hat er nur?

Die Sache mit dem tanzenden Stern
War es nicht Nietzsche, der seinen Zarathustra sagen ließ: "Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern zu gebären?" Für Kreativität benötigt man also Chaos. Aber eben nicht nur, sagt Kreativitätsforscher Rainer Holm-Hadulla. Entscheidend sei das Wort "noch". Denn alleine mit Chaos komme man nicht aus. Über viele Jahre hat sich der Psychotherapeut an der Uni Heidelberg mit dem Thema Chaos und Kreativität beschäftigt. Seine Erkenntnis: Man darf nicht nur Chaos in sich haben, sondern brauche auch Struktur und Gewohnheit, um sich auf Chaos einlassen zu können.

Ordnung ist also tatsächlich nur das halbe Leben. "Hätte beispielsweise Picasso nur mit chaotischen Ideen verbracht, hätte er nur Trash produziert", sagt Holm-Hadulla. Aus vielen Studien wisse man, dass Künstler wie Wissenschaftler zielgerichtet, diszipliniert und strukturiert arbeiten und sich erst im entscheidenden Moment auf das Chaos einlassen.

So schlecht wie ihr Ruf ist Unordnung aber nicht. Es gibt einige gute Gründe dafür, sich das Chaos nicht vollkommen vom Hals zu schaffen, sondern sich ihm derweil auch ruhig einmal lustvoll hinzugeben.

1. Chaos beflügelt Kreativität

Forscher der Universität Minnesota beispielsweise testeten das Verhalten von Studenten in sehr aufgeräumten und sehr chaotischen Räumen. Ihre Aufgabe: neue Einsatz- und Vermarktungsmöglichkeiten für Tischtennisbälle zu finden. Dabei zeigte sich: Die Chaos-Gruppe war deutlich origineller als die Gruppe aus dem ordentlichen Büro. Die Probanden an den unordentlichen Schreibtischen fanden im Schnitt mehr Lösungen, die mit der Höchstpunktzahl ausgezeichnet wurden.

Chaos kann also tatsächlich beflügeln. "Ein unordentlicher Raum ist so etwas wie ein Break zum konventionellen Denken", sagt Ryan Rahinel, Mitautor der Studie der University of Minnesota.

2. Unordnung befreit von Konvention

In einem weiteren Experiment entschieden sich die Probanden im Chaosraum auf einer Getränkekarte eher für die als "neu" statt für die als "klassisch" angebotenen Drinks. Sie waren also experimentierfreudiger. Daraus schlossen die Forscher, dass eine unordentliche Umgebung offenbar nicht nur inspirierender wirke, sondern auch helfe, sich von Konventionen frei zu machen und so zu neuen Ideen zu kommen.

3. Stapler versus Ordnungsliebende - Unordnung kann effektiver sein

Egal wie ausgeklügelt die teuren Ordnungssysteme aus Möbelhäusern und Discountern auch sein mögen: Suchen kostet Zeit. Neun Minuten sucht jeder Büroangestellte täglich auf seinem Schreibtisch nach Verlegtem. Deutlich schlechter schnitten erstaunlicherweise diejenigen ab, die Ordnungssysteme führen. Sie kramten im Schnitt 36 Prozent länger nach ihren Unterlagen, schreiben Eric Abrahamson, Managementexperte an der New Yorker Columbia University, und Journalist David Freedman in ihrem Buch "Das perfekte Chaos". Der Preis der Ordnungsliebe: Solche Menschen verbringen unendliche Zeit damit, zu strukturieren, zu verstauen und später an den jeweiligen Orten wieder danach zu suchen.

Einen Beleg für die Effektivität von Chaos fand auch der Kognitionsforscher Steve Whittaker. Er schaute sich im Alltag an, wie Menschen versuchen, nach unterschiedlichen Prinzipien Mails wiederzufinden. — Als deutlich überlegen gegenüber der Mailsuche in Ordnerstrukturen, in denen die elektronischen Nachrichten abgelegt und ewig gesucht werden, erwies sich die Suchfunktion im Mailprogramm. Mit ihr ließen sich im Mailchaos Nachrichten innerhalb weniger Sekunden wiederfinden. Andernfalls suchten die Probanden länger als eine Minute danach.

4. Unsortierte Stapler trennen sich leichter von Überflüssigem

Ordnung scheint also nicht immer die glänzendste Lösung in Sachen Produktivität zu sein. Menschen, die Ordnungshilfen nutzen, neigen demnach eher dazu, Geordnetes zu horten. Unterlagen schlummern wohl sortiert aber nutzlos in Ordnungssystemen. Stapler hingegen gelten zwar als eher chaotisch, sparen sich allerdings das zeitfressende Einordnen. Mit positivem Nebeneffekt, denn der britische Wirtschaftswissenschaftler Tim Harford fand heraus, dass sich Stapler zudem leichter von Überflüssigem trennen und ihre Unterlagen stets zugänglich haben.

5. Chaos lässt uns wachsam leiben

Wer auf den ersten Blick nicht genau überblicken kann, was Sache ist, der schaut genauer hin. Diese These jedenfalls nutzte der niederländische Verkehrsplaner Johannes Monderman für ein seltsames Prinzip bei der Planung von Verkehrsknotenpunkten: Er ließ die Verkehrsschilder abbauen. Der Grund dafür: Je unübersichtlicher eine Verkehrssituation ist, desto eher folgen die Menschen dem natürlichen Chaos und sind wachsamer. Ob das Prinzip allerdings auf dem Schreibtisch und im Kleiderschrank ebenfalls funktioniert, ist noch nicht untersucht.

6. Unordnung unterstützt das Denken

In vielen Unternehmen hat sich die Idee vom Clean-Desk durchgesetzt. Teamarbeit ist einfacher, wenn in Großraumbüros Schreibtische ständig wechselnd von verschiedenen Mitarbeitern genutzt werden können. Aus diesem Grund ist Disziplin nötig: sich türmende Akten- und Papierberge auf dem Platz zu hinterlassen, ist darum out.

Das allerdings könnte von Nachteil sein. Laut dem Münchener Hirnforscher Ernst Pöppel hilft ein chaotischer Arbeitsplatz gewissermaßen beim Denken. Denn er übermittele wichtige Informationen und fördere neue Gedankengänge. "Wenn man die Dinge, mit denen man zu tun hat — und meistens hat man mit mehreren Aufgaben gleichzeitig zu tun — vor Augen behält, kann man die Arbeit nach einer Unterbrechung leichter wieder aufnehmen", schreibt er in einem Artikel im Magazin der Süddeutschen Zeitung. Chaos kann also eine Gedächtnisstütze sein.

Ein aufgeräumter Arbeitsplatz hingegen übermittelt keine Information. Er könne Beleg mangelnder Flexibilität sein und eine Distanz zur eigenen Arbeit ausdrücken, die man aus dem Weg haben wolle. Oder um es mit Albert Einstein zu halten: "Wenn ein unordentlicher Schreibtisch einen unordentlichen Geist repräsentiert, was sagt dann ein leerer Schreibtisch über den Menschen, der ihn benutzt aus?"

Wie voll oder leer der eigene Schreibtisch nun bleiben soll, dafür gibt es am Ende kein Patentrezept. Letztlich müsse laut Kreativitätsforscher Holm-Hadulla jeder für sich selbst das richtige Gleichgewicht zwischen kreativem Chaos und ordnender Struktur finden.

(wat)
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