Spurensuche Wie holen wir uns trotz der Hektik die Gemütlichkeit zurück?

Dresden/Hamburg · Geborgenheit ist die größte Sehnsucht des Menschen. Oft fällt sie dem Stress zum Opfer, der atemlosen Rennerei von einem Termin zum nächsten. Sie schlägt sich eine Schneise durch das adventliche Gefühl von Behaglichkeit. So holen wir sie uns zurück.

Mit Kuschelsocken am Kamin zu sitzen ist für viele der Inbegriff von Gemütlichkeit.

Mit Kuschelsocken am Kamin zu sitzen ist für viele der Inbegriff von Gemütlichkeit.

Foto: Shutterstock/AlexMaster

Wie schön kann das sein — nach einem hektischen Tag nach Hause zu kommen, die Schuhe auf der Fußmatte zurück zu lassen, das liebste Kuscheloutfit überzuwerfen und sich unter der Decke auf dem Sofa zu verkriechen. Eine Kerze für die wohlige Atmosphäre, ein Tasse mit wärmenden Tee, die behütet in den Händen liegt als sei sie der heilige Gral. Das genau ist Gemütlichkeit. Für mich jedenfalls. Was es wirklich ist, ist natürlich eine sehr persönliche Angelegenheit.

Warum ist Gemütlichkeit eine sehr persönliche Sache?

Gemütlichkeit funktioniert nicht ohne das Gefühl der Geborgenheit. Darum lohnt sich ein kleiner Blick darauf, wo wir uns geborgen fühlen. Psychologen wie Professor Hans Mogel von der Universität Passau sind der Frage nachgegangen. Das Ergebnis: Sich bei jemandem geborgen zu fühlen, gehört zu den beflügelndsten Empfindungen der Welt. Kinder tun das in Gegenwart ihrer Eltern, Paare in der Liebesbeziehung zum Partner oder Gläubige in Hinwendung zu einer höheren Macht. Geborgenheit gibt Sicherheit. Auch die, sich bedingungslos fallen lassen zu können.

Sicher und geborgen fühlen kann man sich nach Einschätzung des Passauer Psychologen zudem in sich selbst. Das setzt voraus, ein Stück weit von sich selbst zurückzutreten zu können und sich zu reflektieren. Zuletzt gibt uns auch unsere Umgebung Geborgenheit. Sie lässt im besten Fall ein Gefühl von Heimat in uns entstehen, schreibt Mogel in seinem Buch "Geborgenheit — Psychologie eines Lebensgefühls". Für den einen kann das der Lieblingsplatz vor dem Kamin sein, für den anderen seine Lieblingskneipe.

Gemütlichkeit hat zu tun mit Gerüchen, wie denen von duftendem Kakao oder hörbaren Sinneseindrücken, wie dem Lieblingshörspiel aus Kindertagen. Ich erinnere mich an die Drei Fragezeichen, Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews. Während sie ihre Abenteuer erlebten, habe ich mich in mein gelb-oranges Schaustoffsofa gelümmelt und durchs Fenster über die Nachbarhausdächer hinweg den Blick ins Nichts schweifen lassen.

Warum ist uns Gemütlichkeit ein Herzensanliegen?

Gemütlichkeit trifft mitten in Herz und Seele. Sie geht ans Eingemachte. Denn Menschen brauchen einen sicheren Hafen, damit sie bestehen können. "Stellen Sie sich vor, Sie werden zum Chef gerufen und bekommen dort einen richtigen Rüffel. Es macht einen Unterschied, ob Sie danach in Ihr eigenes Büro gehen können, die Türe schließen können und die Möglichkeit haben, mal so richtig auf den Tisch hauen zu können, oder zurückzugehen in ein Großraumbüro", gibt der Dresdener Architekturpsychologe Professor Peter Richter zu bedenken. Im Großraumbüro gibt es keinen Rückzugsort, man ist ungeschützt, hat keine Privatsphäre. "Es ist dann viel schwerer die Emotionen herunter zu regeln", ergänzt Richter.

Auch Soziologen und Sozialwissenschaftler haben sich die Frage gestellt, warum Geborgenheit und Gemütlichkeit so wichtig für uns sind. Die Antworten, die aus diesen Forschungsbereichen zu uns dringen: Je weiter die Digitalisierung voranschreitet und je mehr der Mensch zum gläsernen Subjekt wird, desto größer werde der Wunsch nach Privatsphäre und der Möglichkeit, sich in die eigenen vier Wände zurückzuziehen.

Auch die Globalisierung treibt den Wunsch nach Rückzug ins eigene Heim an. "Es gibt eine Verbindung zu Territorien und dem, was Heimat ist", sagt Richter. Man könnte meinen, sich durch die Globalisierung davon zu entfernen. Das Gegenteil aber ist der Fall: "Ich kann nur Weltbürger sein, wenn ich einen Rückzugsraum habe", betont der Architekturpsychologe. "Das hat an Bedeutung gewonnen, weil sich auch in der Arbeitswelt der Leistungsdruck erhöht hat", führt er fort. Darum ist es so nötig, einen Ort zu haben, an dem man sich geborgen fühlt und auftanken kann. Und die Sehnsucht nach Sicherheit wird für die Deutschen immer größer, so zeigen Umfrageergebnisse der Stiftung für Zukunftsfragen. Von 2000 Befragten gaben im Jahr 1995 49 Prozent an, materielle Sicherheit und soziale Geborgenheit seien ihnen das Wichtigste im Leben. 15 Jahre später nannten 80 Prozent der Befragten das als grundlegendsten Wunsch.

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Wo erleben wir Sicherheit und Gemütlichkeit?

Parallel zum immer größer werdenden Wunsch nach Behaglichkeit und Sicherheit erfinden Lifestyle-Experten das Lounging als neues Konzept der Gemütlichkeit, so beschreibt es Kulturanthropologin Brigitta Schmidt-Lauber in ihrem Buch "Gemütlichkeit". Sich ins tiefe Sofa zurückzulehnen, dabei entspannende Musik zu hören und dabei ein Glas Wein zu genießen, das könnte ein Beispiel für die selbstverordnete Wohlfühlbehandlung sein. Darauf folgt in der Mode und Wohnwelt das Cocooning, das Sich-Verpuppen, sich eng Kuscheln. Trendforscher beobachten, wie die Gesellschaft den Rückzug ins eigene Heim antritt, sich "aus der unsicheren, gefährlichen Welt draußen in ihren harmonischen, Sicherheit suggerierenden Kokon flüchteten", so schreibt es Brigitta Schmidt-Lauber. Diese Entwicklung stand unter anderem als Reaktion die Krisenzeit nach den Terroranschlägen am 11. September 2001.

Was in allen Zeiten hilft, sich seine persönliche Geborgenheit zu schaffen, ist das Leben in Ritualen. Ob es der Marktbesuch jeden Samstag ist oder das morgendliche Lesen einer Zeitung oder die Gutenachtwünsche an die Kinder vor dem Einschlafen. Sie alle erfüllen denselben Zweck. Sie geben uns Sicherheit. Sie ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für Geborgenheit, sagt Psychologe Mogel.

Wie schaffen wir unsere persönliche Gemütlichkeit?

Das ermutigt, sich im Alltag viele Inseln der eigenen Geborgenheit zu schaffen. Erlaubt ist alles, was hilft und gefällt: Das heile Zurücksinnen mit Hilfe der Retro-Welle oder die sprichwörtliche "German Gemütlichkeit", für die man im Ausland bis heute keine treffliche Übersetzung gefunden hat. Sie meint das gesellige Beisammensein, frei von übertriebener Etikette. So wie man es auf Schützenfesten oder dem Oktoberfest erleben kann. Verbunden mit der Idylle des Gelsenkirchener Barocks, dem plüschigen Sofa mit dem röhrenden Hirsch. Wem das nicht liegt, der findet seine Gemütlichkeit in den kuscheligen Socken abends vor dem Fernsehen oder einem monatlichen Treffen mit den alten Schulkumpels im Bistro nebenan.

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Wie stellt man an, dass es drinnen so richtig gemütlich ist?

Innenarchitekten und Architekturpsychologen sind Experten in Fragen baulicher Gestaltung und Interieurauswahl. Sie haben herausgefunden, dass wir am besten auf dem so genannten "mittleren Erregungsniveau" funktionieren. Die Kunst liegt demnach darin, die Umgebung nicht zu komplex und nicht zu eintönig zu gestakten. Gerade so, dass wie weder angespannt noch gelangweilt sind, erklärt Prof. Peter Richter. Die Architektur kann viel dazu beitragen, dass Gemütlichkeit eine Chance bekommt. "Räume des Rückzugs sollten nicht zu groß sein. Auch Säulen oder Nischen können dazu beitragen, sie gemütlicher zu machen", erklärt er. Große Fenster und Giebel erfüllen dieses Bedürfnis hingegen weniger. "Im Moment entstehen Gebäude mit kleineren Fenstern, die weniger Lärm nach innen lassen", sagt Richter. Wer das Gefühl von Gemütlichkeit erleben möchte, der sollte auf gedämpftes Licht und matte Wände setzen. Der Hamburger Innenarchitekt Peter Joehnk, Diplom-Designer und Geschäftsführer eines Hamburger Innenarchitekturbüros rät dazu mit warmen Farben und weichen Materialien zu arbeiten. Sein Unternehmen ist auf die Gestaltung von Hotels, Restaurants und Wellnessbereichen spezialisiert. "Insgesamt werden weiche Formen und auch eine gedämpfte Akustik und ein weicher Geruch als gemütlich empfunden. Im Gegensatz dazu sind harte Formen, harte Materialien, helle Farben und frische Luft eben ungemütlich", sagt er.

Dabei führen Höhlenfarben wie beige und braun die Gemütlichkeits-Hitliste an, wobei auch rot und orange gemütlich sein können. Zumindest so lange damit nicht übertrieben wird. Andernfalls machen sie aggressiv. Außerdem raten die Bau- und Einrichtungsexperten einhellig zu natürlichen Materialien wie Holz oder Stein in Kombination mit Textilien, Polstermöbeln und Teppichen.

Wie finde ich eigentlich Gemütlichkeit in all der Hektik?

Nachmittags, wenn man von der Arbeit kommt, ist die beste Zeit für ein bisschen Gemütlichkeit. Denn wenn der Tag sich dem Ende neigt und es draußen dämmert, drosselt das gedämpfte Licht uns herunter. Chronobiologen erklären das mit der einsetzenden Produktion des Schlafhormons Melatonin. Das lässt uns einen Gang runter schalten und bringt uns in die richtige Stimmung für Schlabberlook oder Fernsehlust.

Sich bewusst Zeitfenster für gemütliche Stunden zu suchen mutet in hektischen Zeiten an wie ein unerfüllbarer Luxus. Doch sollte er sein. Dabei muss die Kuscheleinheit mit der Katze, das Schmusen mit dem Partner, ein entspannendes Vollbad nicht Stunden in Anspruch nehmen, um das Gefühl von Gemütlichkeit zu erzeugen. Es reichen auch "Gelegenheitsfenster", wie Brigitta Schmidt-Lauber sie nennt. Saugen Sie nicht nur die wonnigen Minuten auf, sondern auch die dazugehörigen Geräusche: das gemütliche Umblättergeräusch des Buchs, das wohlige Wasserplätschern in der Wanne oder Samuel Barbers Adagio for Strings aus den Lautsprecherboxen. Das vermag die Gemütlichkeit anzulocken, zumindest für einen ausgedehnten Augenblick.

(wat)
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